Wir dokumentieren hier den Bericht von Prof. Dr. Wolfgang Däubler zu einem wichtigen Urteil in einem Leiharbeitsprozess, der zuerst auf LabourNet veröffentlicht wurde: https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2020/06/daeubler-verleiher-in-panik.pdf
Das Verfahren vor dem Arbeitsgericht Kaiserslautern
Der Kläger, ein Leiharbeiter, war für gut zwei Monate in einem Entsorgungsbetrieb eingesetzt. Sein Stundenlohn betrug 9,96 Euro. Er erkundigte sich beim Betriebsrat, was ein Stammarbeitnehmer für dieselbe Tätigkeit bekomme, und erhielt eine korrekte Auskunft: Nach dem Haustarif lag der Stundenlohn bei 13,71 Euro.
Nachdem der Kläger noch in der Probezeit gekündigt wurde, machte er sich ans Rechnen. Für die zwei Monate ergab sich eine Differenz von etwas mehr als 1.000 Euro. Da er als Gekündigter bei seinem Verleiher keine besonderen Sympathien mehr zu verlieren hatte, erhob er mit Hilfe eines Rechtsanwalts Klage auf Zahlung dieses Differenzbetrags.
Der Rechtsanwalt hatte unsere Kampagne aufmerksam verfolgt; er griff unsere europarechtlichen Überlegungen auf und fügte noch eine Menge eigener Ideen hinzu. Die Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht brachte kein Ergebnis. Vor der sog. streitigen Verhandlung hatte das Gericht beiden Parteien mitgeteilt, es würde eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof „zumindest erwägen“. Nach üblichem Juristensprech hieß dies, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Vorlage zu rechnen war.
So kam es dann auch. Am Ende der mündlichen Verhandlung vom 25. Mai 2020 erließ das Gericht einen Beschluss, in dem es dem Europäischen Gerichtshof insgesamt sechs Fragen vorlegte. Sie greifen fast alle Einwände auf, die mittlerweile gegen die Leiharbeitsrichtlinie der EU und ihre Umsetzung in Deutschland erhoben werden. (Die Fragen werden im
Einzelnen wiedergegeben und kommentiert)
Die Verleiherfirma hatte noch vor der mündlichen Verhandlung den Anwalt gewechselt und eine international tätige Großkanzlei mit der Prozessführung beauftragt. Das bedeutete: Man nahm die Sache sehr ernst, denn solche Kanzleien sind nicht mit den gesetzlichen Gebühren zufrieden, sondern vereinbaren satte Stundenhonorare. Und nun geschah etwas Ungewöhnliches. Unter dem 4. Juni 2020 schickte diese Kanzlei namens des Verleihers einen kurzen Brief an das Gericht, der lautete:
„In dem Rechtsstreit (…Leiharbeiter gegen Verleiher…) erkennt die Beklagte den Klageanspruch in vollem Umfang an und bittet gemäß § 307 ZPO durch Anerkenntnisurteil zu entscheiden.
Die Beklagte wird die vollständige Zahlung der eingeklagten Forderungen unmittelbar nach Erlass des Anerkenntnisurteils an den Kläger vornehmen.“
Das Gericht teilte dem Kläger daraufhin mit, es sei beabsichtigt, ein Anerkenntnisurteil zu erlassen. Der Kläger könne noch bis 15. Juni Stellung nehmen.
Unser Leiharbeiter bekommt also sein Geld. Auf der anderen Seite sind damit aber die Fragen an den Europäischen Gerichtshof gegenstandslos geworden: Dieser trifft nur dann eine Entscheidung zur Sache, wenn es nach Ansicht des vorliegenden Gerichts für den konkreten Fall auf die Auslegung durch die Luxemburger Richter ankommt. Das ist aber nicht mehr der Fall, wenn der Kläger sowieso bekommt, was er will.
Dies ist eine altbekannte Methode, wie Verbandsjuristen einen Prozess kaputt machen. Man verhindert eine Entscheidung durch die oberste Instanz, die wahrscheinlich negativ ausgehen würde, indem man einfach alles anerkennt. Das ist auch hier geschehen. Der Verleiher hat keineswegs eingesehen, dass der Kläger Recht hat: Er will nur ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vermeiden. Er hat Angst, dass dort einiges für ihn schief läuft. Am Ende wird gar das Verleiherparadies abgeschafft, und er muss Gleichbehandlung praktizieren. Da würde die Ausbeutung keinen Spaß mehr machen. Angesichts solcher Perspektiven spielt ein Tausender plus Anwaltskosten nun wirklich keine Rolle. Um so etwas zu verhindern, würde man auch sehr viel höhere Summen bezahlen.
Für Verfahren vor einem Obersten Bundesgericht wie dem Bundesarbeitsgericht hat der Gesetzgeber Vorsorge gegen solche Manipulationen getroffen. Nach § 555 Abs. 3 ZPO führt dort nämlich ein Anerkenntnis nur dann zu einem Anerkenntnisurteil, wenn der Kläger dies beantragt. Ist ihm an der Klärung einer Grundsatzfrage gelegen, wird er diesen Antrag nicht stellen. Dann bleibt das Anerkenntnis im Raum stehen und ist ein gewichtiges Indiz, dass der Kläger Recht hat. Das Gericht muss aber zur Sache entscheiden und deshalb z. B. auch alle europarechtlichen Vorfragen klären. Eine einmal beschlossene Vorlage bliebe bestehen.
Der Anwalt des Klägers macht nun geltend, dass man diese Regelung, d. h. den § 555 Abs. 3 ZPO, im vorliegenden Fall entsprechend anwenden muss. Auch hier geht es um die Klärung von Grundsatzfragen, die nicht durch ein Anerkenntnis verhindert werden darf. Ob das Arbeitsgericht Kaiserslautern dem folgt, wird man in Kürze erfahren. Wenn es so ist, wäre dies die zweite Niederlage für die Großkanzlei.
Unterstellen wir mal die schlechtere Variante: Das Arbeitsgericht Kaiserslautern erlässt das beantragte Anerkenntnisurteil. Dieses besteht im Grunde aus einem Satz „Der Klage wird stattgegeben“. Ausführungen zur Rechtslage erfolgen nicht. Darin liegt ja der besondere Wert für die Verleiher. Also sind wir die Gelackmeierten?
Keineswegs. Das „Totmachen“ eines Verfahrens erreicht nur dann sein Ziel, wenn es sich um einen Einzelfall handelt. Vor Jahren hat dies mal ein großer Verleiher bei einer anderen Frage erfolgreich praktiziert: Wenn ein Leiharbeitnehmer an einem Tag nicht eingesetzt werden konnte, wurden ihm einfach 7 ½ Stunden von seinem Arbeitszeitkonto abgezogen. Dies verstieß zwar gegen § 11 Abs. 4 Satz 2 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, der es verbietet, das Betriebsrisiko durch Abmachung auf den Arbeitnehmer abzuwälzen, aber was soll´s? Im Laufe von zwei Jahren hatten nur insgesamt vier Leiharbeitnehmer wegen der Regelung geklagt. Bei zweien kam es zu einer mündlichen Verhandlung, und da gab es gleichfalls ein Anerkenntnis des Verleihers. In den beiden anderen Fällen hatte er schon bezahlt, als das Gericht den ersten Termin anberaumt hatte. Weitere Klagen erfolgten nicht, und so konnte man die rechtswidrige Praxis noch jahrelang fortsetzen.
Bei uns ist die Situation eine andere. Niemand kann Leiharbeiter und ihre Anwälte hindern, weitere Klagen zu erheben. Es reicht, dass sie bei www.labournet.de reinschauen und sich die europarechtliche Argumentation des Arbeitsgerichts Kaiserslautern herausholen. Damit lässt sich ein guter Schriftsatz produzieren und das zuständige Arbeitsgericht anrufen – von Ulm bis Flensburg und von Cottbus bis Aachen. Die Chancen sind drastisch besser geworden. Die ersten Kläger werden anstandslos ihr Geld bekommen, sobald das Gericht zu erkennen gibt, dass es sich eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof in Erwägung zieht. Und warum sollte es dies nicht tun, wenn man ihm die Fragen mundgerecht serviert? Schließlich stammen sie von einem Richter und nicht von irgend so einem Rechtsanwalt oder so einem Hochschulprofessor.
Natürlich wird nicht jeder benachteiligte Leiharbeitnehmer klagen. Aus den Hunderten von E-Mails, die ich im Laufe der Zeit bekommen habe, ergeben sich bestimmte Situationen, in denen eine Klage in Betracht kommt.
– Der Leiharbeitnehmer ist wie im vorliegenden Fall gekündigt und hat deshalb beim bisherigen Verleiher nichts mehr zu verlieren.
– Arbeitsbedingungen und Bezahlung sind so schlecht, dass ein Leiharbeitnehmer mit Familie sowieso Aufstockung nach Hartz IV beantragen muss.
– Der Leiharbeitnehmer hat die Zusage eines anderen Arbeitgebers, ihn in ein normales Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Auch da kann ihm ein Wutausbruch des Verleihers egal sein.
Wer zu einer dieser drei Gruppen gehört, sollte sich unbedingt melden. Wir wissen Rat.
14.6.2020
Siehe zum Hintergrund das Dossier im LabourNet Germany: [Die Anstalt, Prof. Wolfgang Däubler und LabourNet Germany] Gesucht: LeiharbeiterInnen für eine Klage für gleichen Lohn und gleiche Bedingungen auch in Deutschland