Lebensmittelhandel: Profite ohne Skrupel

Aus: Junge Welt Ausgabe vom 01.06.2021, Seite 1 / Titel
Konzernmacht
Einzelhandelskonzern Lidl lobt in Tarifrunde »Streikbrecherprämie« aus. Für Ausbau des Geschäfts sollte Gedenkstätte von Naziopfern weichen
Von Simon Zeise

Hauptsache billig. Die Konzerne im Einzel- und Großhandel verweigern den Beschäftigten Lohnerhöhungen. Dabei sind es die Kassiererinnen und Kassierer, die den Laden in der Coronapandemie am Laufen halten. Und Aldi, Edeka und Co. sind Krisenprofiteure. In keiner anderen Branche wurde im vergangenen Jahr so viel gehamstert.

In der laufenden Tarifauseinandersetzung sollen sich die Beschäftigten mit wenig bis gar nichts zufriedengeben: Mit einem mickrigen Prozent mehr Lohn in diesem Jahr will der »Arbeitgeberverband« im Pilotbezirk Nordrhein-Westfalen die Angestellten abspeisen – nach zwei Nullrunden in den ersten beiden Monaten. Für Hubert Thiermeyer, Verdi-Verhandlungsführer für den Einzelhandel in Bayern, ist das »mehr als ein Hohn«. Die Unternehmen erzielten in der Pandemie Umsatzrekorde, die Beschäftigten hingegen mussten etwa durch Kurzarbeitergeld und gestiegene Lebenshaltungskosten in der Pandemie Einkommenseinbußen hinnehmen, erklärte Thiermeyer am Montag gegenüber jW. Die drohende Altersarmut sei den Beschäftigten stets gegenwärtig. Zudem sei die Arbeitsbelastung enorm gestiegen, aber kein zusätzliches Personal eingestellt worden.

Der Einzelhandel ist im Vergleich zu anderen Branchen besonders profitabel. Hier steigen die Löhne deutlich langsamer. Die Lohnlücke zur Gesamtwirtschaft lag 2019 bei 805 Euro. Das geht aus einer Antwort der Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke hervor, berichtete die Süddeutsche Zeitung am Montag. Im Jahr 2010 hat das mittlere Bruttoeinkommen eines Supermarktverkäufers demnach bei 2.320 Euro gelegen – 384 Euro unter dem mittleren Einkommen der übrigen Wirtschaft. Bis 2019 vergrößerte sich der Abstand auf 663 Euro und damit um 73 Prozent. Am schlimmsten ist es um den Versand- und Interneteinzelhandel bestellt: Dort habe sich die Lohnlücke von 333 Euro auf 738 Euro mehr als verdoppelt.

Die Konzerne bleiben dabei. Statt den Beschäftigten armutsfeste Löhne zu zahlen, lobten sie »Streikbrecherprämien« aus, wie es Thiermeyer nennt. Lidl hatte am Wochenende »freiwillige Tariferhöhungen« von bis zu drei Prozent angeboten. »Wir wollen unsere Mitarbeiter – gerade im Hinblick auf ihren außergewöhnlichen Einsatz – nicht länger auf eine Einigung der Tarifparteien warten lassen«, säuselte Klaus Gehrig, Komplementär des Lidl-Dachkonzerns Schwarz-Gruppe, am Samstag. »Mit der freiwilligen tariflichen Erhöhung bringen wir unsere Wertschätzung zum Ausdruck und gehen zum wiederholten Male gerne in Vorleistung.« Thiermeyer schmeckte die Offerte so wenig wie eine »schlankmachende Sachertorte«. Die Konzernchefs sollten ihr Angebot am Verhandlungstisch unterbreiten. Eines aber werde deutlich: Das Angebot sei eine Reaktion auf die hohe Streikbeteiligung. Verdi hatte zuvor erfolgreiche Ausstände in den Zentrallagern mehrerer Einzelhändler durchgeführt. »Freunde, kommt in die Puschen«, gab Thiermeyer den Unternehmern zu verstehen.

Um Profit zu realisieren, scheint dem Konzern jedes Mittel recht. Medienberichten zufolge hat Lidl beim Bezirksamt Berlin-Mitte einen Bauantrag gestellt, um Kapazitäten ausbauen zu dürfen. Aus dem Antrag, der am 9. November 2020 – ausgerechnet am Jahrestag der Reichspogromnacht – gestellt wurde, geht hervor, dass Lidl ein Gebäude an der Stelle errichten wollte, wo sich das Mahnmal in Erinnerung an die Deportation von Juden befindet, die von den Nazis in Konzentrationslagern ermordet wurden. Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte hatte am Donnerstag abend einem Dringlichkeitsantrag zum Erhalt und Schutz des Geländes zugestimmt.

 

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