Wir schreiben diesen offenen Brief als Lehrkräfte aus der Weiterbildungsbranche, um angesichts der aktuellen Situation unsere Positionen und Forderungen nach außen zu tragen. Wir arbeiten als Dozenten bei privaten und öffentlichen Bildungsträgern in der Erwachsenenbildung: als Deutschdozentins in Integrationskursen, Yogalehrerin oder Englischdozent in Abendkursen.
Die meisten von uns sind Solo-Selbstständige. Ein Großteil arbeitet jedoch nur für einen oder zwei Bildungsträger und hat damit einen arbeitnehmerähnlichen Status. Viele von uns sind unfreiwillig selbstständig, da es kaum feste Stellen in der Weiterbildungsbranche gibt. Die Solo-Selbstständigkeit bedeutet schon in unserem normalen Berufsalltag Unsicherheit und Prekarität: unvergütete Kursausfälle oder -verschiebungen, kompletter Honorarausfall bei Krankheit oder Urlaub, hohe Versicherungsbeiträge und niedrige Honorare.
Grund für unsere Prekarität ist die Sparpolitik im gesamten Erwachsenen- und Weiterbildungsbereich. Die Bedeutung der Erwachsenenbildung innerhalb des Bildungssystems steht in krassem Widerspruch zu deren Unterfinanzierung. Statt einer bedarfsgerechten und kostendeckenden Bildung haben Kommunen, Jobcenter und BAMF ein System von größtmöglicher Flexibilität und minimalen Ausgaben geschaffen. In der aktuellen Situation sind wir mehr denn je die Leidtragenden dieser Kostenminimierung und unsere alltäglichen Probleme werden spätestens jetzt deutlich sichtbar. Seitdem der Beschluss zur Schließung aller privaten und öffentlichen Bildungsträger in Kraft getreten ist, sind wir ohne Arbeit und Einkommen auf uns selbst gestellt. Bisher gibt es nach dem Infektionsschutzgesetz nur eine finanzielle Absicherung, wenn man selbst unter Quarantäne gestellt wird, der Fall einer Schulschließung ist jedoch nicht geregelt. Wir haben die politischen Maßnahmen der letzten Tage intensiv verfolgt und diskutiert und stellen folgende Forderungen:
1) Wir brauchen eine sofortige und direkte Unterstützung, um unsere alltäglichen Ausgaben wie Miete, Essen und Versicherung bezahlen zu können. Diese Unterstützung muss unbürokratisch und schnell zu beantragen sein und darf nicht von unseren Ersparnissen, die für unsere Altersvorsorge oder den Krankheitsfall gedacht sind, abhängig gemacht werden. Wir können es uns nicht leisten, unsere meist ohnehin nur schmalen Rücklagen aufzubrauchen. Die Höhe der Unterstützungszahlung sollte sich an dem Betrag der Grundsicherung orientieren, wobei unsere aktuellen Mietkosten (ohne Prüfung der Angemessenheit) zu tragen sind. Zudem muss die Prüfung der Bedarfsgemeinschaft wegfallen, denn in jedem anderen Fall müssten unsere Partner für die Übernahme der Lebenshaltungskosten aufkommen – eine wirtschaftliche Abhängigkeit und finanzielle Belastung, die wir unzumutbasr finden. Außerdem darf sich eine eventuell nötig werdende Aussetzung der Zahlungen an die Rentenversicherung nicht negativ auf unsere Beitragszeiten auswirken und uns in späterer Zukunft eventuell den Zugang zur Grundrente erschweren.
2) Wir lehnen Kredite und Darlehen strikt ab. Kredite bedeuten für uns nur eine Verschuldung, aus der wir nicht mehr herauskommen werden. Wir können unseren jetzigen Verdienstausfall nicht nachholen, da wir in einem halben Jahr nicht einfach das Doppelte arbeiten können.
3) Wir fordern die langfristige Nachzahlung aller seit Schließung der Schulen ausgefallenen Honorare durch die jeweiligen zuständigen Stellen (Jobcenter und BAMF bei geförderten Maßnahmen, Bildungsträger bei privaten Kursen, Stadt Leipzig bei Volkshochschulkursen). Diese Honorare könnten dann mit den schon vorab gezahlten Zuschüssen verrechnet werden. Wir sehen hier auch den Bund in der Pflicht, den öffentlichen Auftraggebern der Erwachsenenbildung dabei zu helfen, die entstandenen Kosten zu übernehmen. Die finanziellen Folgen von Schulschließungen und Kursausfall können und dürfen nicht wir Lehrkräfte tragen!
4) Für unsere festangestellten Mitarbeiter fordern wir die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 100% durch die Arbeitgeber. Denn auch die Löhne der Festangestellten in der Weiterbildungsbranche sind gering und Kurzarbeitergeld heißt für viele ein Leben am Existenzminimum.
5) Sollte der Kursbetrieb auf eine Online-Fortsetzung umgestellt werden, fordern wir die Bereitstellung einer entsprechenden technischen Ausstattung sowie eine angemessene Vergütung der Vor- und Nachbereitung der Online-Kurse und entsprechend bezahlte Weiterbildungen. Für viele von uns sind Online-Kurse Neuland und wir werden dementsprechend dafür wesentlich mehr Vorbereitungszeit brauchen: Wir fordern daher für einen 4 UE-Kurstag (1 UE = 45 Minuten) auch eine Vor- und Nachbereitungszeit von 4 UE.
6) Wir fordern darüber hinaus eine transparente Informationspolitik der Bildungsträger, der Stadt Leipzig und des BAMF mit klaren und einheitlichen Regelungen.
Die Corona-Krise
legt Probleme offen, die auch in unserem bisherigen Alltag stets
präsent waren. Wir stellen daher auch allgemeine Forderungen, die
über die aktuelle Situation hinausgehen, denn wir müssen das
generelle Problem der Prekarität von solo-selbstständigen
Lehrkräften lösen.
7) Sobald der Kursbetrieb wieder
aufgenommen wird, fordern wir eine Erhöhung der Honorare und
Gehälter, die sich am Verdienst eines Berufsschullehrers orientiert
– das entspricht einem Honorarsatz von mindestens 65 Euro für eine
Unterrichtseinheit (=45 Minuten). Außerdem fordern wir die
Einhaltung des Bundesurlaubsgesetzes, nach dem arbeitnehmerähnlichen
Beschäftigten 20 bezahlte Urlaubstage pro Jahr zustehen. Darüber
hinaus fordern wir Tarifverhandlungen zwischen den Bildungsträgern
und Gewerkschaften für die festangestellten und solo-selbstständigen
Lehrkräfte, um auch konkrete Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Außerdem fordern wir die Möglichkeit der bezahlten Mitbestimmung,
in Form von freigestellten Beschäftigten-Vertretern, bezahlte
Fachbereichsarbeit und bezahlte Weiterbildung.
Wir sehen angesichts der Corona-Krise eine Wirtschaftskrise heranrollen, die uns alle betreffen wird. Die ersten Maßnahmen zeigen bereits, auf wessen Schultern diese Krise lasten wird: Im Eiltempo wurden Unterstützungspakete in Milliardenhöhe aus dem Bundeshaushalt für die großen Unternehmen beschlossen. Diese können zudem Kurzarbeitergeld beantragen, das nicht aus deren milliardenschweren Gewinnen, sondern aus Steuermitteln finanziert wird. Infolgedessen erhalten wir als Beschäftigte nur noch 60% unseres Nettolohns und viele befinden sich damit am Rande des Existenzminimums. Einige Beschäftigte werden jedoch auch ihre Jobs verlieren und in Sozialhilfe abrutschen. Die einfachen Beschäftigten, die den jährlichen Profit der Unternehmen erwirtschaften, werden den Kopf für die Auswirkungen der Krise hinhalten müssen und nicht die Unternehmen. Darüber hinaus zeigt die Corona-Krise noch deutlicher die negativen Auswirkungen der Sparpolitik der letzten Jahre, nicht nur in der Bildungspolitik, sondern auch im Sozial- und Gesundheitssystem: So sehen sich insbesondere die Krankenhäuser nun mit zu wenig Pflegekräften und Ärzten, einer dauerhaften Überlastung der Beschäftigten, fehlenden Bettenkontingenten und stockenden Lieferketten konfrontiert. Wir solidarisieren uns an dieser Stelle mit allen Beschäftigten, die so wie wir unter Privatisierung und sozialen Einschnitten leiden, und ihren Forderungen – die Krise betrifft uns alle. Wir können keine individuellen Lösungen finden, sondern müssen uns in unseren Gewerkschaften zusammenschließen und gemeinsam für unsere Rechte kämpfen!
Leipzig, 25.03.2020
- Lehrkräfte gegen Prekarität (lehrkraefte-gegen-prekaritaet@gmx.de)
- Leipziger Initiative gegen Prekarität in der Erwachsenen- und Weiterbildung
- Mitglieder von ver.di Leipzig
- Kollegen und Kolleginnen der Bildungsträger Berlitz Leipzig, inlingua Leipzig, language coach institute Leipzig, zu Hause e.V., Volkshochschule Leipzig
Facebook: https://www.facebook.com/LehrkraeftegegenPrekaritaet/
Der Brief kann im Original hier heruntergeladen werden: https://www.vernetzung.org/wp-content/uploads/2020/03/Corona_Offener_Brief_aktuell.pdf