Die Bedeutung des Kampfs um eine radikale Arbeitszeitverkürzung (AZV) bei vollem Entgelt- und Personalausgleich (AZVbvE&P) ist strategischer Natur.
In einem Grundsatztext des Arbeitsausschusses der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken hieß es dazu:
„Heute kommt der Geisel Erwerbslosigkeit mehr denn je eine Schlüsselrolle zu. Solange sich auf dem Arbeitsmarkt keine nennenswerte Verschiebung der Kräfteverhältnisse durchsetzen lässt, werden sich Niedriglohnsektor, Prekarisierungen und Stellenabbau ungeschmälert fortsetzen und verschärfen, während gleichzeitig die Reichen immer reicher werden. Klar muss sein, dass im Kapitalismus die Erwerbslosigkeit nicht zu beseitigen ist, aber es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob die Gewerkschaften mit einem entschlossenen Kampf und auf Kosten der Profite eine Verkürzung der Arbeitszeit durchsetzen und damit die Zahl der Erwerbslosen spürbar reduzieren. Ein solcher Erfolg hätte nicht nur auf dem Arbeitsmarkt seine bedeutsamen Auswirkungen: Die Kolleg*innen in den Betrieben würden sich wieder mehr trauen (weil die Angst vor Erwerbslosigkeit geringer würde) und auch weit darüber hinaus würde es der Klasse der Lohnabhängigen wieder Mut machen.
Ein solcher Kampf lässt sich nicht von oben verordnen und auch nicht von unten einfach mal „lostreten“. Das gesellschaftliche Umfeld (nicht nur in den Medien) aber auch und vor allem die innergewerkschaftlichen Kräfteverhältnisse und die sehr starke Skepsis unter den Kolleg*innen erfordern einen langen Atem und einen mittel- bis langfristig angelegten Kampf um die Köpfe.“ https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2018/02/gewlinke_kaempfende_gew.pdf
Der strategische Wert der AZVbvE&P wäre mindestens fünffach:
– Sie brächte mehr Menschen in Arbeit oder sicherte ihre Arbeit
– bei abnehmender Arbeitszeit bliebe das Entgelt gleich wie vorher,
– das Selbst- bzw. Klassenbewusstsein würde durch einen solche (sicherlich harte) Auseinandersetzung massiv steigen,
– das wiederum würde die Kampfkraft der Gewerkschaftsbewegung auch für andere Forderungen stärken,
– und trüge damit für zu einer Änderung des generellen Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit und in der Gesamtgesellschaft bei.
Wachsende Bedeutung
Zu den hier angesprochenen klassischen Gründen für die Neuaufnahme dieses Kampfes kommt heute ein weiterer Grund hinzu, der die Sache noch dringlicher macht: Soll der Klimawandel halbwegs unter Kontrolle zu bekommen sein, müssen in allernächster Zeit große Sektoren der Wirtschaft (nicht nur, aber vor allem die Automobilindustrie) auf klimafreundliche Produktionsweisen und Produkte umgestellt werden.
Eine durchgreifende Konversion (z. B. in Richtung des Baus von Bahnen, O-Bussen usw.) ist nur über einen harten Kampf der abhängig Beschäftigten gegen die Interessen des Kapitals durchsetzbar. Und dies ist nur vorstellbar, wenn sich eine breite Kampffront in den umzustellenden Betrieben für eine Arbeitsplatzgarantie und eine weitreichende AZVbvE&P einsetzt. Parallel dazu muss eine massive gesellschaftliche Debatte hierüber angestoßen werden. Nur dann sind die Kolleg*innen für eine solche Umstellung zu gewinnen. Denn schon aus rein technischen Gründen ist eine Produktion von Bahnen und Straßenbahnen in den hergebrachten Industriebetrieben (selbst in der Autoindustrie) nicht in wenigen Wochen oder Monaten zu erreichen.
Hinzu kommt, dass eine solche Perspektive nur über eine entschädigungslose Enteignung des Kapitals eine ökonomische Chance hat. Somit sind die politischen Implikationen riesig und lassen das Ganze als Mammutaufgabe erscheinen. Aber so kann angesichts des drohenden Klimakollapses ein realistischer Weg beschritten werden: als strategische Gesamtorientierung, um ökologische und soziale Anliegen miteinander zu verbinden.
Der Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital um die Länge des Arbeitstages begleitet den Kapitalismus von Anfang an. Die Entwicklung der Arbeitszeit wurde immer sehr stark von den wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen und den politischen Niederlagen und Siege der Arbeiter*innenbewegung bestimmt (siehe auch Kasten).
Auf der großen IG-Metall-Kundgebung im letzten Mai in Berlin, wurde deutlich, dass die IG-Metall Führung der Frage einer erneut massiv steigenden Erwerbslosigkeit infolge der eingetretenen Strukturkrise völlig hilflos gegenübersteht. Sie setzt auf zwei falsche Pferde: die E-Mobilität, (die das Problem der Arbeitsplätze verschärfen wird) und auf die Förderung einer CO2-Steuer, was die Ängste der Kolleg*innen und die Ablehnung wirksamer Klimaschutzprogramme nur steigern kann.
Eckpunkte einer neuen Kampagne für die AZVbvE&P
- Eine Arbeitszeitverkürzung bringt nur dann wirklich einen messbaren Erfolg, wenn sie in großen Schritten erfolgt. Es müssen mehrere Stunden in der Woche sein, damit die Unternehmen auch gezwungen sind, neues Personal einzustellen und sie die AZV nicht mit höherer Arbeitsintensität auffangen können.
- Es darf nicht der geringste Zweifel daran aufkommen, dass die Gewerkschaft ohne Wenn und Aber auf einem vollen Entgeltausgleich besteht. Würde die Möglichkeit eines Teillohnverzichts offengelassen, hätte dies einen fatalen Demobilisierungseffekt.
- Ziel muss sein, einen vollen Personalausgleich (bzw. definierte Arbeitsbedingungen) durchzusetzen, damit die Zahl der Erwerbslosen sinkt. Unser gesellschaftspolitisches Ziel: Verteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe! Und auch unabhängig von der Arbeitszeitverkürzung gilt: Es braucht mehr Personal im Erziehungsbereich, in der Alten- und Krankenpflege usw.
Wie kann das angegangen werden?
- In den Gewerkschaften muss dafür gekämpft werden, an den positiven Erfahrungen von 1984 anzuknüpfen, als vor allem die IG Metall-Frauen die AZV-Kampagne unter dem Motto führten: „Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen, Lernen.“
- Innerhalb der Gewerkschaften muss die Diskussion breit vorangetrieben werden, verbunden mit einer breiten Informationskampagne unter den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben.
- Parallel dazu muss ein breites gesellschaftliches Bündnis aufgebaut werden.
München 12.12.2019
Christiaan Boissevain (Mitglied im Koordinierungskreis für die gewerkschaftliche Strategie – Konferenz am 25/26 Januar, 2020 in Frankfurt/Main)
Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der AZV:
- Zum ersten Mal wurde die Forderung nach einem 8-Stunden-Tag 1866 erhoben, als noch nicht mal der 12 Stunden-Tag verallgemeinerte Obergrenze war.
- 1918 wurde der 8-Stunden-Tag durchgesetzt, aber bei einer 6-Tage-Woche.
- 1955 begann der Kampf für die 5-Tage-Woche, die erst 1965 tariflicher Standard wurde.
- Anfang der 1970er Jahre wurde die Steinkühlerpause (allerdings nur in Baden-Württemberg) durchgesetzt.
- 1984: Kampf der IGM und der IG Druck und Papier um die 35-Stunden-Woche. Einstieg 1985 (38,5 Stunden). Die 35 Stunden wurden in der Metall- und Elektroindustrie 1995 erreicht. Realistische Schätzungen gehen davon aus, dass damit ca. 300 000 Arbeitsplätze in der Metall- und Elektroindustrie gesichert wurden.
- Seit Ende der 1990er Jahre gab es keine nennenswerten Bemühungen mehr um AZV. Im Gegenteil: Der Streik in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 2003 wurde von Standort-Fanatikern wie Klaus Franz (damals BRV von Opel Rüsselsheim) und vor allem vom damaligen IGM-Vorsitzenden Klaus Zwickel (mit Streikbruch) sabotiert.
- Seitdem verlängert sich die Arbeitszeit in fast allen Wirtschaftszweigen, in den meisten Fällen nicht unbedingt tariflich, aber doch real. Nach einer Untersuchung des DIW betrug die reale Arbeitszeit bei Vollzeitstellen Mitte der 1990er Jahre knapp über 40 Stunde, 2003 waren es schon 42,2 Stunden.
- Die durchschnittliche „offizielle“ Jahresarbeitszeit stieg von 1642 Stunden (1993) auf 1678 Stunden (2008), was aber die sehr ungleiche Verteilung kaschiert. Denn die Zahl der Vollzeitstellen fiel von 29,6 Mio. auf 23.8 Mio., die der (größtenteils erzwungenen) Teilzeitstellen stieg von 5,7 Mio. auf 12, 1 Mio. Nur auf diesem Weg sinkt seit einigen Jahren die offizielle Zahl der Erwerbslosen!
- Besonders drastisch ist diese Entwicklung bei Frauen: 1985 arbeiteten 29,6% in Teilzeit, 1996 waren es schon 33,6% (siehe Steffen Lehndorf in WSI Nachrichten 1999).
Was nicht empfehlenswert und was zu vermeiden ist:
- Kein Königsweg ist die Lebensarbeitszeitverkürzung. Sie hätte nicht den gewünschten Effekt, weil keiner weiß, ob die Kolleginnen und Kollegen später noch zu diesem Tarifvertragsbereich gehören, abgesehen davon, dass diese Verkürzung erst in Jahren greifen würde (bzw. von der Politik konterkariert wird).
- Das Bemühen um eine Reduzierung der realen Arbeitszeit darf nicht dem Kampf um eine tarifliche Arbeitszeitverkürzung entgegengestellt werden. Dies sind keine Alternativen, sondern müssen sich ergänzen.
- In diesem Zusammenhang gilt es vor allem die unzähligen betrieblichen Öffnungsklauseln abzuschaffen. Tariflich gestattet ist dies seit dem Pforzheimer Abkommen (12. 2. 2004), mit dem in Betrieben mit Innovationsbedarf oder hochqualifizierten Bereichen (was immer die Geschäftsleitung darunter versteht) längere Arbeitszeiten (oft ohne Lohnausgleich) ermöglicht werden. Dies erschwert den gemeinsamen Kampf und aktive Betriebsräte wissen, wie schwer es ist, sich dem Druck zu erwehren, wenn die Geschäftsleitung entsprechend argumentiert und der Tarifvertrag das zulässt.