In unserer ersten Einschätzung zu der vom IGM-Vorstand als „Durchbruch“ bezeichneten Verhandlungsverpflichtung zur Angleichung Ost am 27. Mai 2021 haben wir prognostiziert: „Es muss damit gerechnet werden, dass sich eine endgültige Einführung der 35-Stunden-Woche für die mittleren und kleineren Metallbetriebe noch viele Jahre hinziehen wird und es zu weiteren Zugeständnissen (z.B. Kürzungen beim Weihnachts- und/oder Urlaubsgeld) kommen kann.“ Dies wurde auch dadurch bestärkt, dass in Firmen, die bereits Stufenpläne vereinbart hatten, die Kolleg*innen die Arbeitszeitverkürzung zum Teil aus der eigenen Tasche bezahlen.
Unsere Befürchtungen haben sich mit dem am 25. Juni 2021 geschlossenen Tarifabkommen über eine Öffnungsklausel für freiwillige Betriebsvereinbarungen bestätigt. Der Manteltarifvertag bleibt mit den seitherigen Arbeitsstunden geschlossen, lediglich freiwillig können betriebliche Stufenpläne zur Einführung der 35-Stunden-Woche vereinbart werden. Außerdem gilt diese Öffnungsklausel nur für Berlin-Brandenburg und Sachsen. Es wird davon ausgegangen, dass auf der Basis dieser Lösung die übrigen Tarifgebiete Ostdeutschlands die Gespräche über die Arbeitszeitangleichung fortsetzen werden. Und es ist auch eine Teilkostenkompensation durch ausgewählte tarifliche Bausteine, übertarifliche Leistungen, Produktivitäts- und Effizienzmaßnahmen vorgesehen. Diese Tarifvereinbarung kann erstmals am 31. Januar 2024 gekündigt werden.
Das ist aus unserer Sicht auch die Achillesferse der Vereinbarungen. Immer mehr müssen unsere Kolleg*innen den Eindruck gewinnen, Arbeitszeitverkürzung hat nichts mehr mit dem gewerkschaftlichen Grundsatz, Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Entgelt- und Personalausgleich, zu tun. Was sich in der Vergangenheit als vereinheitlichende und zielführende gewerkschaftliche Forderung bewährt hat, soll aus den Köpfen vertrieben werden. Zurück bleibt die Erfahrung, Arbeitszeitverkürzung ist eine andere Form von Teilzeitarbeit, die schon immer auf den Geldbeutel der Kolleg*innen ging. Kein Wunder, dass Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf lobt: „Manchmal gelingt sogar die Quadratur des Kreises, denn mit den nun gefundenen Lösungen machen wir die Arbeitszeit flexibler und geben mehr Spielraum für individuelle Lösungen…“(Stuttgarter Zeitung 29.06.21).
Dazu passt auch die Betriebsvereinbarung, die am 23. Juni 2021 mit Zustimmung der IG Metall und des Arbeitgeberverbandes für den neuen Technologie-Campus im Daimler-Werk Sindelfingen abgeschlossen wurde. Etwa 1000 Softwarespezialisten werden eine Vertrauensarbeitszeit ohne Zeiterfassung haben, die Beschäftigen können frei über ihre Arbeitszeit entscheiden, wobei die 35-Stunden-Woche nur noch als Bemessungsgröße für die Bezahlung erhalten bleibt. Die Arbeitstage sollen in einer durchschnittlichen Fünf-Tage-Woche unter Einbeziehung des Samstags eigenverantwortlich bestimmt werden. Dazu ein Vergütungsmodell, das zum monatlichen Grundentgelt einen monatlichen Leistungssockel von fünf Prozent vorsieht – darüber hinaus wird das bisherige tarifliche Leistungsentgelt von betriebsdurchschnittlich 15 Prozent durch eine variable jährliche Einmalzahlung ersetzt. Schöne neue Arbeits- und Entgeltwelt, in der auf jeden Fall der Betriebsrat auf die letzten Zugriffsmöglichkeiten auf Arbeitszeit, Belastung und Bezahlung für diese Beschäftigten verzichtet hat. Auch die Samstags-Zuschläge entfallen natürlich. Hier wurden ohne Not wichtige Errungenschaften verschenkt.