TVÖD: Verpasste Chance – “Nein” bei der Mitgliederbefragung stimmen!

Beitrag von Sozialismus.info / SAV

Die Warnstreiks im öffentlichen Dienst waren mit ihrer Größe und den gemeinsamen Streiktagen von Kolleg*innen bei der Bahn und an den Flughäfen beeindruckend. Mit dem Abschluss, der der Schlichtungsempfehlung vom 15. April entspricht, wurde die Chance verpasst, den Reallohnverlust zu verhindern.

Von Claus Ludwig, Köln, und Thies Wilkening, Reinbek

Der Abschluss umfasst eine Netto-Einmalzahlung von 1240 Euro im Juni und 220 Euro in den Monaten Juli 2023 bis Februar 2024. Ab März 2024 werden die Brutto-Löhne um 200 Euro plus 5,5% erhöht, die Ausbildungsvergütung um 150 Euro. Teilzeitbeschäftigte bekommen die Einmalzahlung anteilig, Azubis zur Hälfte. Kolleg*innen, die in Elternzeit oder dauerkrank sind und in diesem Jahr noch keinen Lohn vom Arbeitgeber bekommen haben, gehen leer aus.

Die gestückelten Einmalzahlungen für 2023 sind als Ausgleich für die Verluste der vergangenen Jahre nötig. Die Reallöhne sind seit dem letzten Tarifabschluss 2020 bis Ende 2022 um 12% gesunken, Netto haben die Beschäftigten in den meisten Entgeltgruppen mehr als 3000 Euro verloren.

Eine tabellenwirksame Lohnerhöhung gibt es erst ab 2024. Das heißt, dass wir bis inklusive Februar 2024, also das gesamte Jahr 2023, eine Nullrunde haben, in der das Entgelt nicht steigt. Die gestückelten Einmalzahlungen sollen diese Tatsache verschleiern.

Die tabellenwirksame Erhöhung ab 2024 beträgt je nach Entgeltgruppe zwischen 8 und 17%, im Durchschnitt 11,3% – und gleicht damit nicht den Reallohnverlust seit 2020 aus. Dass das reicht, um die kommende Inflation über die gesamte Laufzeit auszugleichen, ist unwahrscheinlich. Die reale Inflation für die Beschäftigten ist ohnehin höher als die offizielle Statistik aussagt, da für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen die überdurchschnittlichen Anstiege bei Lebensmitteln und Energie schwerer wiegen. Insofern stimmt es nicht, dass Reallohnverlust verhindert wird.

Es stimmt allerdings, dass der Reallohnverlust durch diesen Abschluss gebremst wird. Der Abschluss ist besser als in der Metall- und Chemieindustrie und erreicht ungefähr das Niveau des Abschlusses bei der Post. Das wurde durch die massiven Warnstreiks und das Engagement von einer halben Million Kolleg*innen erreicht. In anderen Branchen, in denen es keine gewerkschaftliche Organisierung und Kampfkraft gibt, müssen die Kolleg*innen größere Reallohnverluste hinnehmen, auch eigentlich starke Gewerkschaften wie IG Metall und IG BCE haben nach minimalen oder gar keinen Warnstreiks schlechteren Abschlüssen zugestimmt.

Wäre ein Erzwingungsstreik möglich?

ver.di hat sich mit der 500-Euro-Forderung und den großen Warnstreiks positiv von der IGM unterschieden. Die Rhetorik der Verhandlungsführung und besonders des ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke war zunächst kämpferisch. Vor der Schlichtung wurden viele richtige Argumente gegen die Einmalzahlung und für eine lineare Erhöhung genannt und immer wieder die Möglichkeit von Erzwingungsstreiks betont.

Doch als es ernst wurde, hat die ver.di-Führung ihre eigene Argumentation zu den Akten gelegt. Sie hat die Propaganda der Arbeitgeber , dass die Einmalzahlung die Inflation ausgleiche zumindest teilweise übernommen. Außerdem, hieß es,  seien die Arbeitgeber sehr hartnäckig und man habe in den Verhandlungen „auf Granit gebissen“.

Das war auch vor der Schlichtung schon der Fall – da sprach die Bundestarifkommission aber noch von Urabstimmung und Erzwingungsstreik. Nach der Schlichtung ging es dann plötzlich nur noch darum, „bei den Verhandlungen das Beste herauszuholen“. Die Urabstimmung wurde zwar weiter vorbereitet, aber nur als Notfall-Option, falls keine Einigung auf dem Niveau der Schlichtungsempfehlung herauskommen würde.

Trotz der enormen Kampfbereitschaft bei den Warnstreiks wurden in der Woche nach der Schlichtung Zweifel gesät, ob genügend Kolleg*innen bei einer Urabstimmung für Streik stimmen würden und ob ver.di stark genug wäre, einen Erzwingungsstreik durchzuziehen. Vorher hatte die Verhandlungsführung noch von Schwerpunktstreiks in gut organisierten Bereichen gesprochen, in denen hoher ökonomischer Druck aufgebaut werden kann, dann war in Diskussionen mit Hauptamtlichen aber plötzlich eine potenziell geringe Beteiligung in Kleinstadt-Verwaltungen ein Argument gegen den Erzwingungsstreik.

Tatsächlich wäre ein Erzwingungsstreik schwierig, wenn die Gewerkschaftsführung ihn schon im Voraus für kaum möglich erklärt. Aber ohne diesen taktischen und politischen Rückzug der Führung wäre er machbar gewesen, denn die Kolleg*innen können rechnen. Sie wissen, dass dieses Ergebnis nicht ausreicht, um die steigenden Kosten aufzufangen. Hätte die Gewerkschaftsführung weiterhin erklärt, dass die „Inflationsausgleichszahlungen“ eben keinen Ausgleich der laufenden Preiserhöhung in 2023 darstellen und offensiv deutlich gemacht, dass die Erhöhung zum 1. März 2024 viel zu spät kommt und ja auch auf der geringen Grundlage von heute erfolgt, wäre dies eine gute Basis für den Erzwingungsstreik gewesen.

Wie weiter mit ver.di?

Doch diese Chance wurde nicht genutzt und für die Kolleg*innen im öffentlichen Dienst stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Erst einmal gibt es vom 4.-12. Mai eine Mitgliederbefragung über das Tarifergebnis. Formal könnte ver.di den Abschluss immer noch ablehnen – trotz der Einigung gibt es eine „Erklärungsfrist“ bis 17. Mai, erst danach wird der Abschluss rechtlich wirksam. Normalerweise wird die Mitgliederbefragung als reine Formsache behandelt. Dieses Mal hat die Verhandlungsführung angesichts deutlicher Kritik darauf hingewiesen, dass der Abschluss noch nicht „endgültig beschlossen“ ist und in den Betrieben und Dienststellen noch diskutiert werden kann. Trotzdem wird die Befragung am Ergebnis wohl nichts mehr ändern, denn in den Medien wird der Abschluss als Tatsache dargestellt, die Fortführung des Kampfes wird für viele Kolleg*innen als nicht realistisch gelten.

Wir rufen dazu auf, in der Befragung mit „Nein“ zu stimmen und die Unzufriedenheit vieler Mitglieder sichtbar zu machen. Auch um den vielen neu eingetretenen und den noch nicht organisierten Kolleg*innen zu zeigen, dass ver.di eine lebendige Gewerkschaft mit aktiven und mitdenkenden Mitgliedern ist und kein vom Apparat kontrollierter Papiertiger, der zwar hohe Forderungen aufstellt, aber sie dann nicht durchsetzt.

Viele Kolleg*innen sind vom Abschluss enttäuscht, das ist schon in den Diskussionen der letzten Woche klar geworden. Eine Petition für Urabstimmung und Erzwingungsstreik von Kolleg*innen aus Hamburg hat fast 2000 Unterschriften bekommen. In Berlin hat sogar eine Arbeitsstreik-Versammlung von Delegierten aus allen Bereichen, in denen der TVÖD gilt, mit über 75% gegen den Abschluss gestimmt und die Bundestarifkommission aufgefordert, diesen abzulehnen.

Wenn es in der eigenen Dienststelle bzw. dem Betrieb eine aktive Betriebsgruppe gibt, sollten sich Kolleg*innen dort einbringen, an Treffen und Diskussionen teilnehmen und ihre Meinung vertreten – wie auch sonst in Diskussionen mit Kolleg*innen, die vom Abschluss enttäuscht oder wütend über das Ende der Tarifrunde sind und vielleicht überlegen, aus der Gewerkschaft aus- oder gar nicht erst einzutreten.

Wenn sie sehen, dass sie mit ihrer Unzufriedenheit nicht allein sind und dass es die Möglichkeit gibt, sich in ver.di einzubringen und vor der nächsten Tarifrunde 2025 Druck für eine gute Forderung und vor allem deren konsequente Durchsetzung zu machen, bleiben sie eher Mitglied. Denn um bessere Löhne und Bedingungen zu bekommen, brauchen wir auch weiterhin Gewerkschaften – und eine bessere als ver.di (oder die GEW im Bildungsbereich) gibt es nicht. Also: drin bleiben bzw. eintreten und die Gewerkschaft verändern. Dafür sollten sich Kolleg*innen auch dienststellen- und betriebsübergreifend zusammenschließen. Eine Möglichkeit dafür ist die Vernetzung für Kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Führung und Apparat der DGB-Gewerkschaften sind auf vielfältige Weise mit der SPD und dem Staatsapparat verbunden. Seitens des Staates und der Konzerne ist ihnen die Aufgabe zugedacht, die Beschäftigten zu „befrieden“. Aus der Basis und von Teilen der Funktionär*innen gibt es Gegendruck, doch dieser Druck bleibt zu schwach, wenn er im Rahmen von Kritik und Unzufriedenheit bleibt. Er muss organisiert werden, als klassenkämpferische Opposition, die darauf abzielt, Kämpfe von unten erzwingen zu können. Innerhalb von ver.di gab es in den letzten Jahren durchaus Bewegung, die Verbindung mit der SPD wurde gelockert, es gibt eine Schicht von kämpferischen Haupt- und Ehrenamtlichen in verschiedenen Bereichen. Die Vernetzung von unten muss ausgebaut und strategisch und programmatisch vertieft werden.

Lehren aus der Tarifrunde

Eine Lehre aus dieser Tarifrunde ist, dass vor der nächsten die Schlichtungsvereinbarung gekündigt werden muss. Nur wegen dieser Vereinbarung konnten die Arbeitgeber eine Schlichtung erzwingen, gesetzlich vorgeschrieben ist sie nicht. Vor und sogar während „normalen“ Verhandlungen können Gewerkschaften mit Streiks Druck machen, bei einer Schlichtung gilt Friedenspflicht. Einige Mitglieder der Bundestarifkommission saßen eine Woche lang mit Arbeitgeber-Vertreter*innen und zwei vermeintlich neutralen Ex-Landespolitikern von SPD und CDU als Schlichter zusammen und standen am Ende unter starkem Druck, der Schlichtungsempfehlung zuzustimmen. Ohne Schlichtung wäre direkt die Urabstimmung eingeleitet worden und die Tarifrunde hätte eine ganz andere Dynamik gehabt.

Für Tarifauseinandersetzungen in anderen Bereichen wie bei der Bahn ist der Abschluss leider kein gutes Signal und kann von den Arbeitgebern als argumentative „Obergrenze“ gegen stärkere Erhöhungen genutzt werden. Für den öffentlichen Dienst hatte der Abschluss bei der Post diese Wirkung. Die bei der Post erzielten 340 Euro auf zwei Jahre wurden von den öffentlichen Arbeitgebern als Argument benutzt, um die Forderung nach 500 Euro Mindestbetrag auf ein Jahr abzulehnen – die „notleidende“ öffentliche Hand könne schließlich nicht mehr zahlen als die Post mit ihren 8 Milliarden Jahresgewinn. Schon nach der Schlichtung hat die Bahn davon gesprochen, das Ergebnis im öffentlichen Dienst als Vorlage für ein Angebot nehmen zu wollen. Auch wegen solcher Vorbildwirkungen ist es so wichtig, in allen Gewerkschaften für einen kämpferischen Kurs und demokratische Mitbestimmung der Mitglieder einzutreten.

https://www.sozialismus.info/2023/04/tvoed-verpasste-chance-nein-bei-der-mitgliederbefragung-stimmen/

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