Grundrentengesetz -Politisches Armutszeugnis

Mit der nun von der Großen Koalition beschlossenen sogenannten Grundrente lässt sich die Altersarmut nicht bekämpfen, sondern höchstens im Einzelfall lindern

Aus: Junge Welt – Ausgabe vom 07.07.2020, Seite 12 / Thema/ Von Christoph Butterwegge

Die neuesten Rentenreformen der Bundesregierung sind nur Symbolpolitik. Auch weiterhin sind besonders Rentnerinnen von Altersarmut betroffen
Nach einem peinlich langen Tauziehen zwischen den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD über die Grundrente haben Bundestag und -rat am 2./3. Juli 2020 eine Schrumpfversion der ursprünglich von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil entwickelten Konzeption zur materiellen Besserstellung von Geringverdienerinnen und Geringverdienern im Alter beschlossen, sofern diese jahrzehntelang gearbeitet, Beiträge gezahlt und Sorgearbeit verrichtet haben. Parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzte Regierungskoalitionen im Bund haben fast zehn Jahre lang darüber gestritten, ob Menschen, denen es trotz eines arbeitsreichen Lebens nicht gelingt, eine Altersrente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten, der Gang zum Sozialamt erspart werden soll, und wenn ja, wie dies am besten geschehen kann.

Geschichtliche Hintergründe
Im westdeutschen Nachkriegskapitalismus galt die Rente als verdienter Lohn für eine Lebensleistung, auf die man einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch hatte, um im Ruhestand keine Abstriche vom gewohnten Lebensstandard hinnehmen zu müssen. Seinerzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Senkung des Rentenniveaus vorzuschlagen, obwohl die Lebenserwartung der Menschen auch damals schon kontinuierlich stieg und sich die Finanzierung der Altersrenten daher trotz bis zum sogenannten Pillenknick um die Mitte der 1960er Jahre relativ hoher Geburtenraten schwieriger gestaltete. Schließlich war es völlig unbestritten, dass man den ökonomischen Wiederaufstieg allen Generationen zu verdanken hatte, die in einem als vorbildlich gepriesenen Sozialstaat auch nach Beendigung ihres Erwerbslebens am steigenden Wohlstand des Landes teilhaben sollten.
Zu einer historischen Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung wurde die Weltwirtschaftskrise 1974/75, denn seither fand mit Ausnahme einzelner Leistungsverbesserungen im Bereich der
Familienpolitik und der Einführung der Pflegeversicherung kein weiterer Ausbau des sozialen Sicherungssystems mehr statt. Unter dem Eindruck der sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit und abnehmender Verteilungsspielräume sowie unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus wurden stattdessen zahlreiche Transferleistungen gekürzt, Anspruchsvoraussetzungen verschärft und Kontrollmaßnahmen intensiviert.
Die seinerzeit regierende Koalition von CDU, CSU und FDP beschloss am 9. November 1989, knapp eine Stunde vor Öffnung der Berliner Mauer, mit Zustimmung der SPD-Opposition im Bundestag das Rentenreformgesetz. Es führte zu einer Vielzahl sozialer Verschlechterungen im (west) deutschen Rentenrecht, die bis heute fortwirken. Beispielsweise ging man von der brutto- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten über, verkürzte die Höchstdauer der Anrechnung von Ausbildungszeiten, hob die Altersgrenzen für den Renteneintritt von Frauen schrittweise von 60 auf 65 Jahre an und führte Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat bei vorzeitigem Rentenbezug ein, die bis zum Tod wirksam sind.
Zudem ließ man die Rente nach Mindestentgeltpunkten zum 1. Januar 1992 auslaufen. Bis dahin wurden die persönlichen Entgeltpunkte für Zeiten eines niedrigen Lohns auf 75 Prozent des Durchschnittsentgelts in der Rentenversicherung aufgewertet, wenn mindestens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten (einschließlich Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder Pflege) vorhanden waren. Dabei gab es weder eine Bedürftigkeitsprüfung, die der Gesetzlichen Rentenversicherung wesensfremd ist, noch eine Einkommensprüfung, denn mit der Rente nach Mindestentgeltpunkten sollte die Lebensleistung von Geringverdienerinnen und Geringverdienern unabhängig davon anerkannt werden, ob sie beispielsweise Mieteinnahmen aus einer von den Eltern geerbten Wohnung hatten.

Ursachen und Folgen der Altersarmut
Nach der Jahrtausendwende verschärfte sich, bedingt durch Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes (Lockerung des Kündigungsschutzes, Liberalisierung der Leiharbeit, Erleichterung des Abschlusses von Werk- und Honorarverträgen sowie Einführung von Mini- und Midijobs) einerseits und zur Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung (Einführung der Riester-Rente, schrittweise Absenkung des Rentenniveaus von 53 Prozent zum Jahrtausendwechsel auf 48 Prozent heute und Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre) andererseits, das Problem der Altersarmut.
Armut in einem reichen Land bedeutet nicht bloß, materiell gegenüber der großen Bevölkerungsmehrheit benachteiligt zu sein, sondern auch, selbst dafür verantwortlich gemacht zu werden, was dazu führt, dass sich viele Betroffene als Versager fühlen, gesundheitliche und psychosoziale Probleme haben und resignieren. Armut im Alter ist deshalb so bedrückend, weil Seniorinnen und Senioren damit der Lohn für ihre Lebensleistung verweigert wird, weil sie im Unterschied zu jungen Menschen keine Chance haben, der Bedürftigkeit durch Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit zu entkommen, und weil das Risiko der sozialen Isolation und der Einsamkeit mit fortschreitendem Alter wächst.
Mittlerweile bilden Ältere diejenige Bevölkerungsgruppe, deren Armutsrisiko stärker wächst als das jeder anderen. Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum 1. Januar 2003 eingeführt wurde, hat sich die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, trotz einer strengen Bedürftigkeitsprüfung mehr als verdoppelt. Ende 2018 waren es neben 515.000 dauerhaft voll Erwerbsgeminderten, die als Menschen mit schweren Behinderungen ein sehr hohes
Armutsrisiko haben, bereits 559.000 Seniorinnen und Senioren, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII erhielten. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung – früher hieß sie Fürsorge bzw. Sozialhilfe – überhaupt zu beantragen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlich den (bis zu einem Jahreseinkommen in Höhe von 100.000 Euro ausgeschlossenen) Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder bzw. sogar auf ihre Enkel fürchten. Zwei von drei Anspruchsberechtigten stellen keinen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung im Alter. Kein Wunder also, dass es im Dezember 2018 bereits nicht weniger als 1.093.119 Ruheständlerinnen und Ruheständler gab, die einen Minijob hatten, darunter 195.513 Personen, die 75 Jahre oder älter waren!
Man muss auch kein Prophet sein, um eine weiter steigende Altersarmut voraussagen zu können: Wenn es aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse einerseits immer schwieriger wird, ausreichende Rentenanwartschaften zu erwerben, und das Rentenniveau andererseits – wie von der Regierungskommission »Verlässlicher Generationenvertrag« vorgeschlagen – möglicherweise auf 44 Prozent sinkt, gibt es zwangsläufig mehr Altersarmut. Umso dringender erscheint ein Handeln der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker, das zur Armutsbekämpfung taugt, weil gerade Altersarmut in einer reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik skandalös und untragbar ist.
Es war ein politisches Armutszeugnis für die etablierten Parteien, dass sie ein Jahrzehnt brauchten, um ihr Rentenkonzept zu verabschieden. Keines der in diesem Zusammenhang erörterten Modelle – »Zuschussrente«, »Lebensleistungsrente«, »Solidarrente« und »solidarische Lebensleistungsrente« – hat sich durchgesetzt. Immer gab es bei CDU, CSU und FDP wirtschaftsnahe Kräfte, die eine Kompromisslösung blockierten, oder bei der SPD führende Politiker oder Politikerinnen wie Andrea Nahles als ehemalige Arbeits- und Sozialministerin, die keinen energischen Widerstand dagegen leisteten.
Ihr sozialdemokratischer Nachfolger Hubertus Heil hat es immerhin geschafft, seine »Respektrente« – wenn auch stark verwässert – durch das parlamentarische Verfahren zu bringen. Obwohl sie fälschlicherweise so heißt, handelt es sich letztlich gar nicht um eine Grundrente, die alle (Wohn-)Bürger im Rentenalter bekommen, wie das beispielsweise in Dänemark und den Niederlanden der Fall ist. Vielmehr ging es hierzulande um eine modifizierte Neuauflage der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Rentenanwartschaften langjährig Versicherter zwischen 30 und 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes werden künftig unter bestimmten Voraussetzungen bis auf den zuletzt genannten Prozentsatz hochgewertet. Anschließend wird der errechnete Zuschlag allerdings wieder um 12,5 Prozent reduziert, weil die Union sonst das Äquivalenz- bzw. Leistungsprinzip gegenüber jenen etwas besser Verdienenden verletzt gesehen hätte, die ohne Zuschlag denselben Rentenwert erreichen würden.
Mit dem Grundrentengesetz erkennt der Staat immerhin an, dass sich Arbeit auch für diejenigen Ruheständlerinnen und Ruheständler lohnen muss, deren Lohn für eine armutsfreie Rente selbst nach 35 Jahren der Beitragszahlung, der Kindererziehung und/oder der Pflege von Angehörigen nicht ausreicht. 1,3 Millionen Kleinstrentnerinnen und -rentner sollen vom 1. Januar 2021 an davon profitieren, was im Durchschnitt einen Zuschuss von weniger als 85 Euro im Monat ergibt. Durch eine Gleitzone, die bei 33 Jahren der Beitragszahlung, Kindererziehung und/oder der Pflege beginnt, wird eine Abbruchkante bei 34 Jahren und elf Monaten vermieden. Zeiten der Arbeitslosigkeit und Zurechnungszeiten von Erwerbsminderungsrentnern bleiben allerdings unberücksichtigt. Freibeträge in der Grundsicherung und beim Wohngeld sollen hingegen sicherstellen, dass auch Menschen die
Grundrente erhalten, die in Städten mit hohen Mieten leben. Selbst wenn das der Fall ist, dürften sie in aller Regel aber weiter einkommensarm sein, wenn man die Armutsrisikoschwelle der Europäischen Union (zuletzt 1.035 Euro pro Monat für Alleinstehende) zugrunde legt.

Das Konzept der Respektrente
Vergleicht man das Grundrentengesetz mit dem ursprünglichen Konzept von Hubertus Heil, so fällt auf, dass sich die Zahl der Anspruchsberechtigten, die in den Genuss der Grundrente gelangen werden, mehr als halbiert hat, ebenso wie die für das Projekt veranschlagten Finanzmittel. Ursprünglich sollte eine Friseurin, die 40 Jahre auf Mindestlohnniveau gearbeitet hat und trotzdem nur eine Rente von 512,48 Euro erhält, mit der Grundrente auf 960,90 Euro im Monat kommen. Was jetzt wegen des starken Einflusses von Wirtschaftslobbyisten innerhalb der Unionsfraktion herausgekommen ist, ist im Vergleich dazu nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit bekämpft man Altersarmut nicht wirksam, und das wissen auch die Koalitionspolitiker. Es handelt sich um reine Symbolpolitik, ähnlich wie dies auch beim Klimapaket der Bundesregierung der Fall war und bei der Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestages der Fall ist.
Heils ursprünglicher Plan hätte ca. 3,8 Milliarden Euro pro Jahr beansprucht; zugestanden haben ihm die Koalitionspartner der SPD gerade einmal 1,3 Milliarden Euro. Statt einer Bedürftigkeitsprüfung, die der Wirtschaftsflügel von CDU und CSU verlangt hatte, steht eine »umfassende Einkommensprüfung« auf der Basis von Finanzamtsdaten an. Somit bleibt den Betroffenen zwar eine meist als demütigend erlebte Offenlegung der gesamten Lebensumstände erspart, wie sie Sozialleistungsbezieher über sich ergehen lassen müssen. Wenn die Freibeträge von 1.250 Euro für Alleinstehende und 1.950 Euro für (Ehe-)Paare überschritten sind, werden die Einkommen aber zu 60 Prozent auf die Grundrente angerechnet. Von der Grundrente ausgeschlossen bleiben die hauptsächlich betroffenen Frauen, wenn ihr Einkommen oberhalb von 1.600 Euro bzw. das eines Ehepaares über 2.300 Euro liegt.
Wenn der Staat fragt, was der Mann einer Kleinstrentnerin verdient, liegt dem ein überholtes Familienmodell und eine familienorientierte Sozialstaatskonzeption zugrunde. Denn die Grundrente soll ja gerade kein Almosen sein, sondern der Lohn für eine Lebensleistung, die in jahrzehntelanger Arbeit, der Kindererziehung und/oder der Pflege von Angehörigen besteht. Parteien wie CDU, CSU und FDP, die ansonsten für einen »schlanken Staat« plädieren und Bürokratie abbauen wollen, können plötzlich gar nicht genug bürokratische Hürden errichten, wenn es um die Schaffung von mehr sozialer Gerechtigkeit geht. Bei der Mütterrente, welche die CSU seinerzeit ähnlich brachial durchgeboxt hat wie die Pkw-Maut, findet übrigens bezeichnenderweise keine Einkommensprüfung statt, obwohl sie den Staat mit zehn Milliarden Euro über siebenmal so viel pro Jahr kostet.

Blockade- und Bremserrolle der Union
Während die SPD nur deshalb in die amtierende Regierungskoalition mit den Unionsparteien unter Bundeskanzlerin Angela Merkel eingetreten ist, weil sie die Grundrente in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hatte, boykottierten CDU und CSU das Projekt von Beginn an. Als willkommener Aufhänger diente den Unionsparteien zunächst die von ihnen in der Koalitionsvereinbarung untergebrachte Bedürftigkeitsprüfung. Mit dieser hätte es sich gar nicht um eine Rente für langjährig Versicherte Geringverdienerinnen und Geringverdiener gehandelt, sondern um eine Sozialleistung, was die SPD unmöglich akzeptieren konnte.
Stattdessen einigten sich die Regierungsparteien nach monatelangem Gerangel auf eine »umfassende Einkommensprüfung« durch die Deutsche Rentenversicherung, zu deren Durchführung sich diese aufgrund des nötigen Aufwandes ohne Personalaufstockung jedoch gar nicht in der Lage sah. Man kann nur hoffen, dass nicht zu viele Altersarme sterben, bevor die Behörde ihren Anspruch geprüft hat – Zeit dafür bleibt laut Parlamentsbeschluss bis zum 31. Dezember 2022!
Hatten sie die Grundrente durch ihre ständigen Einwände immer komplizierter und schwerer umsetzbar gemacht, denunzierten CDU und CSU die geplante Grundrente nunmehr als ein »Bürokratiemonster«, dem sie nicht zustimmen könnten. Als ihnen der Koalitionspartner erneut entgegenkam, um das sozialdemokratische Prestigeprojekt zu retten, erschien den Unionsparteien dessen Finanzierung plötzlich als »unseriös«, weil der Bundeshaushalt dadurch nicht belastet werden dürfe und Vizekanzler Olaf Scholz mit seinem Plan scheiterte, die Kosten über eine Finanztransaktionssteuer auf der europäischen Ebene zu decken. Zur selben Zeit wurde der Rüstungshaushalt allerdings gleich um fünf Milliarden Euro und danach erneut um zwei Milliarden Euro erhöht, ohne dass CDU und CSU, welche die Verteidigungsministerin stellten, in diesem Fall das geringste Finanzierungsproblem sahen. Die Grundrente kostet in der jetzt beschlossenen Form gerade einmal zwischen 1,3 Milliarden Euro (2021) und 1,6 Milliarden Euro (2025) pro Jahr. Geht es nach der Union, kommen 400 Millionen Euro davon aus dem Sozialetat. Der kleine Zuschuss für langjährig Versicherte mit geringen Rentenansprüchen, über den sich vor allem Frauen und Ostdeutsche freuen können, darf aber nicht zu Lasten anderer Sozialausgaben gehen.
Als die Covid-19-Pandemie den Bund zu Hilfsmaßnahmen und Rettungsschirmen für Unternehmen veranlasste, mussten die hohen Kosten und die stark steigende Staatsverschuldung als weiterer Vorwand herhalten, mit dem der Wirtschaftsflügel von CDU und CSU die Grundrente zu verhindern suchte. Dabei war gerade der am selben Tag wie die Grundrente beschlossene Nachtragshaushalt mit seiner Neuverschuldung des Bundes von 218 Milliarden Euro im laufenden Jahr ein schlagendes Argument für die Finanzierbarkeit der Grundrente. Dass die Kosten des kurz vorher aufgelegten Konjunktur-, Krisenbewältigungs- und Zukunftspakets der Bundesregierung genau 100mal so hoch sind wie die der Grundrente für ein Jahr, lässt erkennen, dass Unsummen für die Wirtschaft von der großen Koalition bereitgestellt werden, während für die Armen nur Brosamen abfallen.
Wenn es um Maßnahmen zur Bekämpfung der wachsenden Altersarmut geht, die mehr Respekt für arbeitende Menschen bedeuten und ihnen nach einem langen Erwerbsleben ein Alter in Würde ermöglichen sollen, sind viele Unionspolitiker mehr als kleinherzig. Um ihre Glaubwürdigkeit zu retten, sollten CDU und CSU sich daher wieder ihrer christlichen Wurzeln, ihrer sozialen Verantwortung und der Tatsache erinnern, dass sie einst die Rente nach Mindestentgeltpunkten mitgetragen hatten, ohne eine Bedürftigkeits- oder Einkommensprüfung zu verlangen. Wer das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst nimmt und mehr Gerechtigkeit schaffen will, müsste die Geringverdienerinnen und Geringverdiener vor Bedürftigkeit im Alter schützen.
Was an sozialpolitischer Generosität im 20. Jahrhundert herrschte, müsste angesichts eines sehr viel größeren privaten und gesellschaftlichen Reichtums heute ebenfalls möglich sein, ohne dass von Zahnarztgattinnen geraunt wird, die als Scheinbeschäftigte ihres Mannes einige Jahrzehnte später die Gelder der Steuerzahler abgreifen wollen. Dass die Unionsparteien dem Grundrentengesetz am Ende zugestimmt haben, war vermutlich in erster Linie dem parteitaktischen Wunsch geschuldet, ein absehbares Wahlkampfthema abzuräumen, bevor SPD und Die Linke daraus Kapital schlagen konnten. Denn ausgerechnet die Angehörigen jener Berufsgruppen, denen während der Covid-19-
Pandemie von den Balkonen als »Helden des Alltags« applaudiert wurde, im Alter leer ausgehen zu lassen, hätte CDU und CSU sicherlich viele Stimmen bei der nächsten Bundestagswahl gekostet. Altenpflegerinnen, Lkw-Fahrer, Paketzusteller und Supermarktkassiererinnen haben es verdient, nicht beim Sozialamt vorstellig werden zu müssen, was das Grundrentengesetz allerdings keineswegs gewährleistet.

Schlussfolgerungen
CDU/CSU und SPD haben das Problem der Altersarmut, das gelöst werden muss, soll es nicht den gesellschaftlichen Frieden stören, zusammen mit FDP und Bündnis 90/Die Grünen selbst herbeigeführt. Der breite Niedriglohnsektor, welcher mittlerweile fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, ist schließlich nicht vom Himmel gefallen – die Regierungsparteien haben ihn vielmehr bewusst geschaffen. Längst ist er das Haupteinfallstor für Familien- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut. Dass dieser Bereich bei uns stärker gewachsen ist als in sämtlichen anderen Ländern Westeuropas, hat zwei Ursachen: Durch die »Agenda«-Reformen und die Hartz-Gesetze ist der Arbeitsmarkt in bis dahin nicht gekannten Umfang dereguliert worden. Man hat den Kündigungsschutz gelockert, die Leiharbeit liberalisiert, Mini- und Midijobs eingeführt sowie den Abschluss von Werk- und Honorarverträgen erleichtert. Außerdem wurde die gesetzliche Rentenversicherung schrittweise demontiert, sei es durch die Teilprivatisierung der Altersvorsorge (Einführung der Riester-Rente), die Verankerung von »Dämpfungs-« bzw. Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel oder durch die Anhebung der Regelaltersgrenze.
Ähnlich problematisch sind die Nebenabreden der Koalition, denen die SPD zugestimmt hat, um der Union eine »abgespeckte« Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung abzuringen. Sie reichen von der Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung über die Verdopplung der Höhe des staatlichen Förderbetrages, den Unternehmen erhalten, wenn sie Geringverdiener eine Betriebsrente aufbauen lassen, und die Auflegung eines bis zu zehn Milliarden Euro umfassenden Investitionsfonds für Zukunftstechnologien bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bis zum weiteren Ausbau der eigentlich gescheiterten Riester-Rente, die jedoch hohe Profite bzw. Provisionen für Banken, Versicherungskonzerne und Finanzdienstleister verspricht.
Von einem »sozialpolitischen Meilenstein« im Kampf gegen die Altersarmut (Marie-Luise Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) oder einem »riesigen Sieg« der SPD (Bundesfinanzminister Olaf Scholz) kann deshalb überhaupt keine Rede sein. Es handelt sich eher um eine Minimallösung für ein Problem, das diese Partei durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes (Hartz-Gesetze), die Teilprivatisierung der Altersvorsorge (Riester-Reform) und die Absenkung des Rentenniveaus selbst herbeigeführt hat.
Soll die bestehende Altersarmut verringert und die Entstehung weiterer sozialer Ungleichheit verhindert werden, ist ein umfassender arbeitsmarkt- und rentenpolitischer Kurswechsel nötig. Dazu gehören eine Re-regulierung des Arbeitsmarktes, eine Wiederbelebung des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses (nicht bloß für Männer) und eine Rückabwicklung der Rentenreformen ab 1992. Sinnvoll wäre es, die Gesetzliche Rentenversicherung zu stärken, ihr Leistungsniveau zu stabilisieren und die sogenannten Dämpfungs- bzw. Kürzungsfaktoren (Riester-, Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) aus der Rentenanpassungsformel zu entfernen. Zugleich muss die Lohnersatzfunktion, also das Prinzip der Lebensstandardsicherung der gesetzlichen Rente, rehabilitiert werden.
Längerfristig geht es um die Fortentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung zu einer solidarischen Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung, in die eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung integriert sein muss. Den durch Deregulierungsmaßnahmen induzierten Veränderungen am Arbeitsmarkt, die eine Verschlechterung für jene Menschen darstellen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um leben zu können, oder sie zu (Schein-)Selbständigen gemacht hat, denen es häufig nicht besser geht, sollte vorrangig durch eine Ausdehnung der Versicherungspflicht Rechnung getragen werden. Da abhängige und selbständige Arbeit, Selbständigkeit und sogenannte Scheinselbständigkeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen bzw. zu besonderen Bedingungen abgesichert werden wie Beamte, Landwirte, Handwerks-, Kunst- und freie Berufe.


Zu den Hintergründen des Beitrags erschien vom Autor kürzlich die 2. aktualisierte Auflage seines Buches »Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland« (Weinheim und Basel, Verlag Beltz Iuventa, 2020).

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