Mehr Demokratie in Arbeitskämpfen und Gewerkschaften

Einleitungsreferat von Alexandra Willer, PRV am Uniklinikum Essen, in der AG 2 auf der Strategiekonferenz für kämpferische Gewerkschaftspolitik 2020 (Frankfurt, 25. 2. 2020)

Ich möchte von dem elfwöchigen Streik im Sommer 2018 am Uniklinikum Essen und Düsseldorf berichten. Hier haben Beschäftigte verschiedenster Berufsgruppen, aber v.a. Pflegekräfte für einen Tarifvertrag Entlastung gestreikt, wie er an der Charité das erste Mal abgeschlossen wurde und nach uns noch an verschiedenen anderen Uniklinken.

Ich war Mitglied der formalen, von ver.di akzeptierten Streikleitung und später auch der Verhandlungskommission, und die ganze Zeit über Mitglied des Streikkomitees.

Es gab subjektive und objektive Faktoren, die es uns in Essen ermöglicht haben, einen unter den gegebenen Umständen weitestgehend demokratischen Arbeitskampf zu führen. Ich möchte aber direkt eingangs sagen, dass meiner Meinung nach, einen Arbeitskampf zurzeit in Deutschland wirklich demokratisch durchzuführen, eigentlich nicht möglich ist, solange er in Händen und unter Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie ist, und was durch das Streikrecht noch verschärft wird. Ich vertrete die Ansicht, dass die Gewerkschaften seit vielen, vielen Jahrzehnten dazu dienen, die Arbeiter zu disziplinieren und von wirklichen Kämpfen abzuhalten. Die Gewerkschaftsbürokratie versucht ihr Bestes, um dem Staat und den Unternehmern zu zeigen, dass sie verlässlich und unentbehrlich ist. Unter diesen Umständen ist eine wirkliche Demokratie in Arbeitskämpfen nicht möglich. Wir haben in Essen aber trotzdem versucht, unsere Bewegungsfreiheit so weit wie möglich auszunutzen.

Begünstigende Faktoren waren, dass wirklich nur zwei einzelne Betriebe in ziemlicher Nachbarschaft gestreikt haben, was natürlich für die eigentliche Kampfkraft schlecht war. Das hat dazu geführt, dass die Verhandlungen zwar nicht örtlich, aber in der Verhandlungsführung relativ nah bei uns waren und wir unseren Streik nahezu selbst organisieren und planen konnten. Außerdem gibt es in ver.di und v.a. in unserem Fachbereich Gesundheit eine gewisse „Tradition“ der Teilhabe der Mitglieder. Ich glaube, das ist in Gewerkschaften wie der IGBCE schon außerhalb von Arbeitskämpfen sehr, sehr viel schwerer. Wir konnten auch unsere Forderungen für die einzelnen Berufe unter den Streikenden in Ruhe diskutieren und beschließen. Und obwohl wir sehr gute Bedingungen innerhalb der Gewerkschaft hatten, haben wir schnell erlebt, wie wir an die Grenzen der „Demokratie“ gekommen sind.

Der Kern der Aktiven der beiden Betriebe kennt sich seit Jahren von vielen Tarifauseinandersetzungen und hat ein ziemlich hohes Vertrauen zueinander. Auch in Düsseldorf werden die Auseinandersetzungen, wie schon der 16-wöchige Streik 2006, sehr viel demokratischer geführt als man es üblicherweise kennt, z.B. mit täglichen Streikvollversammlungen. Auch in Düsseldorf sind viele der Aktiven politisch engagiert und bewusst über ihre Rolle. Bei uns in Essen gibt es einen harten Kern von Aktiven, die alle politisch aktiv sind.

Warum haben wir vorgeschlagen ein Streikkomitee zu wählen? Streikvollversammlungen reichen nicht aus, damit die Streikenden ihren Streik kontrollieren und leiten können. Es braucht

  • eine Streikleitung, die die Streikenden wählen und regelmäßig wiederwählen und die nur ihnen zur Rechenschaft verpflichtet ist;
  • ein Komitee, das alles diskutiert, vorbereitet und dafür sorgt, dass alle gefassten Entscheidungen umgesetzt werden.

Warum haben wir vorgeschlagen, ein Streikkomitee zu bilden, obwohl doch die Streikleitung bereits aus denkbar „bester“ Zusammensetzung bestand und aus einer, die nie freiwillig versucht hätte, den Streik für die Gewerkschaftsführung abzuwürgen?

Ein Streik ist eine Schule für Klassenbewusstsein und Klassenkampf. Ein Streik kann nur so weit wie möglich gehen, wenn er von denen geleitet wird, die die Streikenden, ihre Stimmung und ihre Kampfeslust repräsentieren. Sie bringen neue Ideen und Kreativität mit und auch manchmal Mut, den alte Hasen, die immer sonst vorauspreschen, nicht haben. Bei uns hat beispielsweise in der ersten Zeit, als wir noch kein Streikkomitee hatten, die Streikleitung eingeschätzt, dass wir bis zum Tag der Verhandlungen streiken. Die Streikenden haben aber abgestimmt, dass wir direkt eine ganze Woche durchstreiken.

Viele von uns sind durch unsere tägliche Gewerkschaftsarbeit menschlich und funktionsmäßig mit Leuten aus dem Apparat verbunden; sie können viel einfacher Druck auf uns ausüben, und wir können uns dem nicht entziehen, wenn die „alten Hasen“ die Streikleitung sind.

Am Anfang des Streiks hatten wir eine Streikleitung aus drei Aktiven, die von den Vertrauensleuten gewählten waren. Nach zwei Wochen, als klar war, dass der Streik länger dauern wird, haben wir das erste Streikkomitee von allen an den jeweiligen Tagen anwesenden Streikenden gewählt; erst für eine Woche, dann immer wieder für jeweils zwei Wochen. Täglich waren (auch wegen der Notdienste) 300-350 Streikende da. Insgesamt haben über 800 Kollegen während der elf Wochen mal gestreikt; es war die ganze Zeit ein Minderheitenstreik, denn im Uniklinikum Essen arbeiten mit Ärzten über 5.000 Beschäftigte. In Düsseldorf waren die Zahlen etwas besser.

Im Streikkomitee waren immer zwischen 20-30 Mitglieder ‒ davon 10-20, die vorher nie gewerkschaftlich im Betrieb aktiv gewesen waren. Es gab im Laufe der Wochen einen minimalen Wechsel bei den Mitgliedern. Leider ist es uns bis zum Schluss trotz einiger Bemühungen nicht gelungen, Kollegen ‒ jenseits der bereit gewerkschaftlich aktiven ‒ aus dem Arbeiterbereich in das Streikkomitee zu bekommen; es waren hauptsächlich Pflegekräfte. Wir haben uns jeden Tag von Montag bis Freitag in den Wochen nach dem offiziellen Streiktagende getroffen und zum Teil bis zu drei Stunden diskutiert und geplant. Das war oft sehr schwer, weil die anderen Streikenden schon im Freibad waren (das war der super warme Sommer vorletztes Jahr) und wir bei fast 40 Grad Entscheidungen diskutiert haben.

Am Anfang war das Streikkomitee hauptsächlich ein Organisationskomitee, ist dann aber von Woche zu Woche mehr und mehr eine politische Leitung des Streiks geworden. Wir haben dort alles vorbesprochen, was wir am nächsten Tag in der täglichen Streikvollversammlung den Streikenden vorgestellt haben: Inhalte von Flugblättern, Aktionen, Verhandlungsforderungen usw. Und wir haben auch versucht, die Lage und Stimmung einzuschätzen, ebenso die Taktik der Gewerkschaftsführung.

Wir haben im Streikzelt alle Sachen morgens berichtet. Wir haben uns bemüht, den Streikenden alle Informationen zu geben, damit sie selbstständig über den Fortgang des Streiks entscheiden können. Dies hat auch dazu geführt, dass uns gegen Ende einige Kollegen gesagt haben, dass sie am Anfang nur Bahnhof verstanden haben, vielleicht auch bis zum Schluss nicht am Mikrophon im Streikzelt geredet haben, aber bewusst abstimmen konnten und nicht nur der Mehrheitsstimmung folgen mussten.

Während der Verhandlungen gab es natürlich von Seiten der „Arbeitgeber“ die Forderung, dass den Streikenden nichts aus den Verhandlungen erzählt werden dürfte. Natürlich haben sich auch Teile der verhandelnden Gewerkschaftssekretäre empört verhalten, als wir trotzdem alles frei erzählt haben.

Einmal haben höhere hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre mir erzählt, dass es nach dem Stillstand und der Hängepartie endlich Verhandlungen geben solle, aber geheim und nur mit mir aus dem Betrieb. Und wenn ich etwas davon verraten würde, dann würden die „Arbeitgeber“ die Verhandlungen sofort abbrechen.

So einer Verantwortung nicht zu erliegen, ist schwer. Aber durch das Streikkomitee war es etwas einfacher. Nicht ich war die Streikleitung, sondern das Streikkomitee und das heißt: Nicht ich kann das entscheiden, das muss das gewählte Streikkomitee entscheiden. Daher habe ich dort das Dilemma geschildert. Und das Streikkomitee wiederum hat sich entschieden, die Streikversammlung darüber abstimmen zu lassen, ob man an solchen „Geheimverhandlungen“ teilnehmen solle, wenn ja: wer… und letztlich blieb damit von den Geheimverhandlungen nur noch, dass der Ort und das genaue Datum nicht verraten wurde. Und auch die Ergebnisse wurden wiederum im Streikzelt diskutiert… Letztlich war damit von dem „Geheimen“ nicht mehr viel übrig geblieben. Und natürlich haben die „Arbeitgeber“ die Verhandlungen nicht abgebrochen.

Wir haben alles im Streikzeit offen abstimmen lassen mit ja, nein, Enthaltung. Am Anfang haben einige gedacht, dass das unnötige Demokratie ist. Aber als die entscheidenden Abstimmungen über die Verhandlungsinhalte kamen (und das waren wirklich heftige Diskussionen mit gegenseitigem Anschreien im Streikzeit), war es gut, dass wir eine eingeübte Praxis hatten. Und es ist dann auch sofort aufgefallen, als Hauptamtliche einzelne Versammlungen geleitet haben und eben sich nicht an diese Praxis gehalten haben, sondern nur das haben abstimmen lassen, was sie wollten.

Als es dann zu Verhandlungen kam, hatten wir wochenlange Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaftssekretären, wie wir uns demokratische Verhandlungen vorstellen. Am besten offen im Streikzeit, keine Geheimtreffen, keine geheimen Verhandlungsinhalte, mit einer großen Verhandlungskommission und den Streikenden am Verhandlungsort. Aber da haben wir erlebt, wie selbst der relativ nette Mikrokosmos der ver.di-Hauptamtliche alle Waffen gezückt hat, die wir erwartet hatten: Es wurde sich in den Verhandlungen nicht mehr an die Absprachen gehalten, mir wurde das Mikro aus der Hand gerissen, als ich den Streikenden meine Meinung zu etwas gesagt habe, das ein Hauptamtlicher nicht wollte… Die Gewerkschaftssekretäre haben akzeptiert, dass zum Teil weit weg in Berlin verhandelt wurde, und dass die Streikenden nicht vor den Verhandlungsort durften.

Wir haben mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder verhandelt. Das sind alles Staatsdiener, die seit Jahren mit ver.di und auch der ÖTV das Ritual der Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes eingeübt haben. Das ist so staatstragend – von beiden Seiten ‒ dass ich mir diese eigene Welt vorher gar nicht vorstellen konnte. Da wissen beide Seiten, dass man ab 20 Uhr nun wirklich nicht mehr verhandeln kann, weil man ja den letzten Flieger kriegen muss, während die Streikenden in der neunten ununterbrochenen Streikwoche sind. Da wissen beide Seiten, dass sie kein Porzellan zerschlagen wollen, weil man sich noch so und so oft in der nächsten Tarifrunde des öffentlichen Dienstes in Potsdam wiedersieht.

Gegen unseren erbitterten Widerstand haben sie aus jedem Klinikum nur drei Streikende in die Verhandlungskommission zugelassen. Auch haben die Gewerkschafssekretäre den Streikenden dreimal klargemacht, dass während der Verhandlungen der Streik unterbrochen werden müsse – das gehöre sich so bei den Verhandlungsritualen.

Am Anfang haben sich die Streikenden auf solche Forderungen leider zum Teil eingelassen. Viele haben gesagt, dass die Gewerkschaftssekretäre lange Erfahrung haben und wir ja nicht. Aber wir haben sehr darum gekämpft, dass z.B. nicht immer dieselben „verhandeln“, dass sie jeweils gewählt werden. Es war eine echte Bewusstseinsentwicklung für die Streikenden, sich überhaupt die Frage zu stellen. Das war natürlich überhaupt nicht gewünscht – weder von Gewerkschafts- noch von „Arbeitgeber“seite. Aber als die Streikenden gemerkt haben, wie schädlich eine Streikunterbrechung ist, und die „Arbeitgeber“ durch unsere Bereitschaft, zu unterbrechen keinen Deut verhandlungswilliger waren, wurde das Vertrauen in die Ritual-Gewerkschafter geringer.

Selbstverständlich ist auch von Seiten der Gewerkschaftssekretäre das Streikkomitee nie offiziell anerkannt worden; sie haben es bis zu einem gewissen Punkt als demokratische Spielwiese geduldet ‒- auch weil sie sich nicht unnötig mit den Streikenden anlegen wollten. Aber immer, wenn es darauf ankam, haben sie die formale Karte gezogen und nur die Tarifkommission durfte abstimmen. Das war aber ziemlich egal, weil den Mitgliedern klar war, dass sie nicht gegen die Entscheidungen aus dem Streikzelt stimmen können. Diese Tarifkommission war Monate vor dem Streik gewählt worden; da waren viele der Streikenden noch nicht mal Gewerkschaftsmitglieder.

Wie ist es ausgegangen? Es gab nach elf Wochen und einer von der Landesregierung organisierten Schlichtung ein Verhandlungsergebnis, mit dem die Verhandlungskommission leben konnte. Auch die Mehrheit der Streikenden hätte das vermutlich gekonnt, zumal der Streik zwar nicht bröckelte, aber in der Mitte der Zeit eine Delle bekommen hatte und viele Streikenden nicht mehr konnten und einige nur noch aus einer Art Pflicht bzw. Solidarität nicht in den Betrieb zurückgingen.

Doch der Tag, an dem über das Verhandlungsergebnis abgestimmt wurde, stand unter totaler Zeitnot, da die Busse der Streikenden aus Düsseldorf zu einer bestimmten Uhrzeit abfuhren. Viele hatten das Gefühl, dass sie übertölpelt, oder zumindest überfahren würden und wollten erstmal eine Nacht drüber schlafen. Einige wollten weiter streiken, damit sie mit den Kollegen im Notdienst sprechen konnten.

Aber da kam das pseudo-freundlich-verstehende und anherrschende-anordnende Gesicht der Gewerkschaftsführung zum Vorschein. Sie haben den Kollegen gedroht, dass die Arbeitgeber ihr Angebot zurückziehen würden, wenn wir weiterstreiken würden, dass wir dann gar nichts hätten usw. Durch die dann ruckzuck durchgeführte Abstimmung ist bei vielen ein sehr schlimmer Nachgeschmack geblieben, was sich auch im Urabstimmungsergebnis gezeigt hat, was sehr knapp das Ergebnis angenommen hat.

Der Streik war in seinen Grenzen so demokratisch, wie es möglich war. Für mich sind Streikkomitees kein Prinzip. Aber wir sollten immer versuchen, solche demokratischen Strukturen aufzubauen – wenn möglich auch betriebsübergreifend, wenn mehrere Betriebe dabei sind. Und v.a. ist es nicht nur eine formalistische Frage. Denn man kann auch eine Streikleitung Streikkomitee nennen, das aber trotzdem über den Streikenden steht. Diejenigen, die es vorschlagen und sich dafür einsetzen, müssen wirklich überzeugt sein, dass die Streikenden in ihrer Gesamtheit alles über ihren Streik wissen und ihn selber leiten sollen.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.