Artikel von Solidarität-Info von Sascha Staničić vom 16. Mai 2023
EVG muss neuen Termin für Warnstreik festlegen und Urabstimmung einleiten
Die EVG hat den für Sonntag Abend bis Dienstag Mitternacht geplanten fünfzigstündigen Warnstreik bei der Deutschen Bahn abgesagt, nachdem die Bahn-Geschäftsleitung eine einstweilige Verfügung beantragt hatte und die zuständige Richterin am Frankfurter Arbeitsgericht deutlich gemacht hatte, dass sie dieser zustimmen wird. Unter Kolleginnen und Kollegen herrscht Enttäuschung und Verunsicherung – auch weil die EVG-Führung nicht offen und ehrlich die Gründe für den Streikabbruch kommuniziert. Statt diesen schönzureden sollte die EVG schnell einen Termin für den nächsten Warnstreik vorbereiten und gemeinsam mit allen Gewerkschaften eine Kampagne gegen staatliches Eingreifen in das Streikrecht organisieren.
Was war geschehen? Basierend auf Informationen aus verschiedenen Quellen stellt sich uns dieses Bild dar: Die Geschäftsleitung der Deutschen Bahn hatte mit einem viele dutzend Seiten langen Antrag eine einstweilige Verfügung gegen den geplanten Bahn-Streik beantragt. Die Richterin am Arbeitsgericht Frankfurt/Main hat darin Fehler der EVG bei der von ihr an das Bahn-Management kommunizierten Forderungsliste entdeckt, die sie zum Anlass genommen hat, deutlich zu machen, dass der Streik aus ihrer Sicht illegal wäre – und nicht nur der geplante Streik, sondern auch die beiden Warnstreiks die schon stattgefunden haben. Das hätte große Schadensersatzforderungen zur Folge haben können. Konkret soll es darum gehen, dass die EVG Gespräche über Tarifverträge vorgeschlagen hat, die noch gar nicht gekündigt waren bzw. die aus juristischen Gründen nicht „bestreikbar“ sind. Ob diese Sicht der Dinge bei einer höheren Instanz geteilt worden wäre, scheint offen zu sein. Aus Sorge vor einer möglichen Niederlage bei einer Revision vor dem Landesarbeitsgericht, hat sich die EVG-Führung aber dazu entschieden, einem Vergleich mit der Bahn-Geschäftsleitung zuzustimmen und die Kuh so vom Eis zu bekommen. Ob das in dieser Situation alternativlos war, ist für uns schwer einzuschätzen. Nachvollziehbar ist es sicher. Richtig war es, dass der Streik bei den Privatbahnen nicht abgeblasen wurde, wenn diese auch in der öffentlichen Wahrnehmung weniger ins Gewicht fallen.
Wichtig ist es, festzuhalten, dass – anders als in manchen Medien kolportiert – die Frage der Verhältnismäßigkeit des angekündigten Streiks keine Rolle bei der Argumentation der Richterin gespielt haben soll. Das ist insofern von Bedeutung, als dass dies die Axt ist, die die Bosse an das Streikrecht legen wollen.
Nicht aus der Not eine Tugend machen
Das Problem fängt aber dabei an, dass dieser entscheidende Grund für den Streikabbruch nicht klar in die Mitgliedschaft kommuniziert wird. Das sollte die EVG-Führung unbedingt nachholen und die gemachten Fehler kollektiv aufarbeiten, um zu verhindern, dass sich solche nicht wiederholen.
Denn zusätzlich zu dem Formfehler wurde die Frage des Mindestlohns diskutiert und dazu ein Vergleich geschlossen, bei dem die Bahn zusichert, dass sie der Forderung der Gewerkschaft nachkommt, dass für die Kolleginnen und Kollegen, deren Grundlohn skandalöserweise noch unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt (diesen erreichen sie nur mit Zuschlägen), dieser eingeführt und eine etwaige Lohnerhöhung den Mindestlohn zur Grundlage nehmen wird. Das ist ein Erfolg, aber nur ein Teilerfolg. Die Kolleginnen und Kollegen der Bahn kämpfen nicht nur dafür, sondern für eine Lohnerhöhung von zwölf Prozent mehr Lohn, aber mindestens 650 Euro.
Scheinbar versucht die EVG-Führung aus der Not eine Tugend zu machen und den Streikabbruch als Folge eines tarifpolitischen Erfolgs darzustellen. Das ist schlichtweg Unsinn und hat aber Bahn-Mitarbeiter*innen eher verwirrt, weil sie sich fragen, ob der Kampf für diese eigentlichen Forderungen der Tarifrunde nun fortgesetzt wird oder nicht. Mittlerweile hat die EVG zwar erklärt, dass die „Streikwesten noch mal gebraucht werden“, aber noch keine Strategie für die Fortsetzung des Kampfes dargelegt.
Weiter streiken!
Aus unserer Sicht ist es dringend nötig, dass sich die EVG-Führung jetzt nicht auf weitere Verhandlungen mit einem Management einlässt, dass bisher deutlich gemacht hat, dass es nicht gewillt ist, die berechtigten Forderungen der Gewerkschaft auch nur annähernd zu erfüllen. Genau deshalb war der Aufruf zum Warnstreik richtig und genau deshalb sollte die EVG eine Urabstimmung einleiten und einen Erzwingungsstreik vorbereiten (siehe dazu unsere früheren Artikel zum Thema hier und hier).
Streikrecht verteidigen und ausbauen
Gleichzeitig muss das Vorgehen von DB-Geschäftsleitung und dem Frankfurter Arbeitsgericht als das benannt werden, was es ist: ein gemeinsamer Angriff von Kapital und Staat auf das Streikrecht. Es ist nicht der erste in den Streiks der letzten Jahre. Schon beim Streik am Hamburger Hafen und den Berliner Krankenhäusern, versuchten die so genannten „Arbeitgeber“ per Gericht gegen die Streiks vorzugehen und waren damit in Hamburg auch teilweise erfolgreich. Vertreter*innen der Kapitalist*innenklasse in CDU und Arbeitgeber*innenverbänden fordern immer wieder eine Einschränkung des Streikrechts, insbesondere für die Beschäftigten der kritischen Infrastruktur. Hier sollen Streiks mit großen gesellschaftlichen Auswirkunen (übersetzt heißt das: negativen Folgen und Profiteinbrüchen für die Kapitalist*innen) als unverhältnismäßig erklärt werden und Mindestbesetzungen verpflichtend vorgeschrieben werden.
Mit jedem Gerichtsentscheid, wie dem in Frankfurt, kommen die Bosse ihrem Ziel ein Stück näher. Das gilt, selbst wenn es stimmen sollte, dass in diesem Fall die EVG Formfehler begangen hat. Das Streikrecht in der Bundesrepublik ist ohnehin kein umfassendes, sondern ein beschränktes Recht. Es basiert nicht auf klaren gesetzlichen Regeln, sondern auf dem Grundgesetzartikel 9, Absatz 3, von dem abgeleitet wird, dass das Streikrecht nur in Tarifauseinandersetzungen besteht. Durch Gerichtsentscheidungen ist so eine Rechtspraxis entstanden, die vorsieht, dass nur Gewerkschaften im Rahmen von Tarifverhandlungen zum Streik aufrufen dürfen. Viele Arbeitsrechtler*innen sehen darin jedoch einen Widerspruch zum Grundrecht auf Streik und zu internationalen Abkommen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Deshalb sollten die Gewerkschaften zum Beispiel die Behauptung, politische Streiks seien verboten, zurückweisen und ein Recht auf politischen Streik (wie es bisher die Gewerkschaften ver.di, GEW und IG BAU auch tun) explizit einfordern.
Jeder Angriff darauf muss zurück gewiesen werden und gleichzeitig der Kampf für ein umfassendes Streikrecht, dass auch Streiks zum Beispiel gegen Betriebsschließungen und für politische Ziele explizit legalisiert geführt werden (nebenbei bemerkt müsste dazu auch die Rücknahme des Tarifeinheitsgesetzes gehören, dem die EVG und andere Gewerkschaften leider zugestimmt haben). Dazu sollten alle Gewerkschaften eine Kampagne starten und auch die Partei DIE LINKE sollte dazu aktiv werden. Der Kampf ums Streikrecht muss aber auch beinhalten, sich dieses massenhaft zu nehmen. Die Vergangenheit hat in verschiedenen Fällen gezeigt, dass politische Streiks, Streiks gegen Betriebsschließungen und selbst Beamt*innenstreiks möglich waren und sich der Staat nicht getraut hat, dagegen juristisch vorzugehen, wenn diese stark waren und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf Seiten der Beschäftigten waren. Das Recht auf Streik, so begrenzt es ist, wurde von unseren Vorfahren in der Arbeiter*innenbewegung dadurch erkämpft, dass sie streikten. Anders wird es auch in Zukunft nicht möglich sein. Das bedarf jedoch einer klaren Strategie der Gewerkschaften und den Aufbau breiter Unterstützung für solche Aktionen in der gesamten Arbeiter*innenklasse.
Das Vorgehen der EVG-Führung in den letzten Tagen lässt nichts Gutes erahnen. Die Gefahr ist groß, dass die Tarifrunde nun in neue Verhandlungen verschleppt wird und die kampfbereiten Kolleginnen und Kollegen ausgebremst werden. Um das zu verhindern, sollten nun auf allen Ebenen Betriebsgruppen- und Gremiensitzungen einberufen werden, die sich für die sofortige Ansetzung schnellstmöglicher Termine für die Wiederholung des abgeblasenen Warnstreiks und die Einleitung der Urabstimmung aussprechen. Kolleginnen und Kollegen, die sich für einen kämpferischen Kurs der Gewerkschaft einsetzen wollen, sollten sich zusammen schließen und vernetzen. Ein Gelegenheit dafür bietet die „Bahnvernetzung“ von EVG- und GDL-Kolleg*innen: zu finden auf bahnvernetzung.de