Wende zu einer neuen Streikkultur?

ein Beitrag aus SoZ Nr. 4 / 2024 | Weniger Forderungen werden durchgesetzt von Jakob Schäfer

Noch in den 80er Jahren haben die hiesigen Gewerkschaften in den Tarifrunden im Schnitt etwa zwei Drittel der aufgestellten Forderungen durchgesetzt, allerdings damals schon mit abnehmender Tendenz. Seitdem ist die Anpassung der Gewerkschaftsführungen (und bedeutender Teile des jeweiligen Apparats) an die Standortpolitik vorangeschritten.

Vor allem die weitere Bürokratisierung führte dazu, dass seit den 2000er Jahren größere Auseinandersetzungen mit dem Kapital oder der »öffentlichen Hand« noch strikter vermieden wurden. So sank die Durchsetzungsquote auf unter 50 Prozent.
Schlimm wurde die Schockstarre, in die die Gewerkschaften mit der Pandemie gerieten. Und noch verheerender wirkte sich der Konfliktvermeidungskurs seit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten ab 2022 aus. Seitdem verzeichnen wir in fast allen Sektoren einen beträchtlichen Reallohnverlust. Allein 2022 waren es nach offizieller Statistik 4,1 Prozent, seit Ausbruch der Pandemie summieren sich die Reallohnverluste auf insgesamt 12–14 Prozent.

Die Kolleg:innen spüren es im Portemonnaie
Zwar konnten die Gewerkschaftsführungen die Tarifabschlüsse der letzten gut anderthalb Jahre mittels Inflationsausgleichsprämie (IAP) ihren Mitgliedern einigermaßen gut verkaufen. Doch diese Einmalzahlungen gehen weder in die Tabelle ein, noch wirken sie sich bei den tariflichen Sonderzahlungen aus (Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Rentenbeiträge usw.).
Das zweite wesentliche Moment für das seit Monaten gestiegene Engagement bei Tarifauseinandersetzungen liegt im Fachkräftemangel. Das hat nicht nur zur Folge, dass in vielen Bereichen die Beschäftigten selbstbewusster werden und Gehaltsaufbesserungen fordern. Sie ­rücken auch verstärkt die Arbeitsbedingungen in den Vordergrund und verlangen Entlastungen, andere Pausenregelungen und Arbeitszeitverkürzung – mindestens für den Schichtdienst.
Das ist so in Krankenhäusern, aber auch an den Flughäfen (Sicherheitspersonal, Bodenpersonal und Flugbegleiter:innen der Lufthansa usw.), und im sonstigen Verkehrssektor.
Eine veränderte Arbeitsmarktlage gibt es aber wohlgemerkt nicht in allen Bereichen. Im Automobilsektor und hier vor allem bei den Zulieferern ist die Lage umgekehrt. Seit Monaten ist bekannt, dass allein ZF, Conti und Bosch in den nächsten Jahren 27000 Stellen streichen wollen.

Welche gewerkschaftliche Strategie?
Seit Jahrzehnten beklagen betriebliche Aktivist:innen und sektorenübergreifend die Gewerkschaftslinke, dass bei Tarifverhandlungen mehr herausgeholt werden könnte, wenn nur die Mobilisierung nicht so früh abgebrochen würde. Die Schlussfolgerungen ließen sich jeweils so zusammenfassen: »Beim nächsten Mal müssen wir besser mobilisieren und noch mehr Druck von unten aufbauen. Dann kann der Gewerkschaftsvorstand nicht so einfach faule Kompromisse schließen.«
In dem von der Gewerkschaftsbürokratie hartnäckig kontrollierten Tarifritual ist aber das Ausmaß der Mobilisierung nicht das Kriterium für die Zielmarke beim Abschluss eines Tarifvertrags. Vielmehr entscheidend ist die vorher von den Vorständen anvisierten Marke. Dies zeigt sich aktuell an Folgendem:
Erstens waren die Mobilisierungen seit Anfang 2022 deutlich im Aufwind. Anfang 2023 gab es bei der Post gute Warnstreiks und eine tolle Bewegung für die Urabstimmung. Anfang März 2023 stimmten 85,9 Prozent für einen unbefristeten Streik und unmittelbar danach verhandelte der Ver.di-Vorstand mit dem Vorstand der Post und schloss die Runde ganz schnell mit einem bedeutenden Reallohnverlust ab, trotz Rekordgewinne der Post in Höhe von 8 Mrd. Euro! In der Tendenz ähnlich, wenn auch zumeist nicht so auffällig, lief es bei allen Tarifrunden der letzten zwei Jahre.
Zweitens hat der Unterschied in den Mobilisierungen zwischen den verschiedenen Branchen keinen wirklichen Einfluss auf die Höhe des jeweiligen Abschlusses. So gab es bei der IG BCE (für die Chemieindustrie) noch nicht mal einen einzigen Warnstreik. Maßstab war offensichtlich nicht der Bedarf der Kolleg:innen, sondern das, was am Verhandlungstisch von beiden Seiten als akzeptabel angesehen wurde.

Die Rolle der Konzertierten Aktion
Zur Wahrung der Interessen des deutschen Kapitals und der öffentlichen Haushalte wurde im Juli 2022 die (un)heilige Allianz von Regierung, Kapital und Gewerkschaftsbürokratie bekräftigt. Man verständigte sich darauf, eine »Inflationsausgleichsprämie, zahlbar bis Ende 2024« in die Tarifverträge aufzunehmen. Damit sollte für Kabinett und Kapital die Möglichkeit eröffnet werden, den Druck aus dem Kessel zu nehmen, ohne dabei den Kapitalinteressen oder denen des Staates zuwiderzuhandeln. Anderthalb Jahre lang hat dies ohne Einschränkung funktioniert.
Die gute Streikbeteiligung im Nahverkehr und bei der Bahn (GDL-Tarifkampf) offenbart nun eine gewisse Änderung, ohne dass damit schon die große Wende eingeläutet wäre. Das Engagement für andere Arbeitsbedingungen – v.a. für kürzere Arbeitszeiten – und bessere Entlohnung war so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Doch was ist nun das Ergebnis? Ver.di ist gerade dabei, den Schwung der Mobilisierung für einen verbesserten Tarifvertrag Nahverkehr in völlig gewohnter Weise in den Sand zu setzen und die Forderungen der Kolleg:innen weitgehend zu missachten: Von der Forderung nach einer spürbaren Arbeitszeitverkürzung für Schichtarbeitende ist außer einer verbesserten Pausenregelung nichts übriggeblieben! Von sechs Landestarifverträgen (Stand 20.3.) wurde nur der in Hamburg mit einer bescheidenen Arbeitszeitverkürzung abgeschlossen.
Mit den sonstigen Verbesserungen (differenzierte Erhöhungen der Tabelle um im Schnitt etwa 10–12 Prozent bei einer Laufzeit von 24 Monaten) werden die Verluste der letzten Jahre nicht ausgeglichen. Und selbst die halbwegs absehbare Sicherung des heutigen Reallohns wurde nur deswegen erreicht, weil der Druck in Richtung Arbeitszeitverkürzung so groß war, dass man etwas höher abschließen musste als bspw. bei der Post, nämlich auf das Jahr umgerechnet bei etwa 5 Prozent.

Welche Schlussfolgerungen aus den jüngsten Tarifrunden?

  1. Es wäre töricht, aus den Erfahrungen der letzten Zeit abzuleiten, dass man sich gar nicht an diesen Mobilisierungen beteiligen sollte. In diesen Mobilisierungen werden wichtige Erfahrungen gesammelt und nur so lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit der gewerkschaftlichen Tarifpolitik vorantreiben.
  2. Kritische Kolleg:innen und Betriebsgruppen müssen sich intensiver in die Forderungsdiskussion einmischen. Vor allem muss die Frage der Laufzeit systematisch thematisiert werden, denn lange Laufzeiten sind das Hauptmittel der Gewerkschaftsführungen, Verhandlungsergebnisse schönzurechnen.
  3. Schlichtungsabkommen (vor allem bei Ver.di) müssen samt und sonders aufgekündigt werden, weil eine Schlichtung nur dazu dient, eine gut angelaufene Mobilisierung abzutöten. Die Streiktaktik muss von den Betroffenen (nicht von Hauptamtlichen) bestimmt werden, am besten mittels gewählter Streikkomitees.
  4. Der Angriff auf das Streikrecht muss in einer breiten Front abgewehrt werden, ohne die Verantwortung der Industriegewerkschaften und der EVG zu verschweigen (so forderte die IGM-Vorsitzende Christiane Benner die GDL auf einzulenken, und hat damit das GDL-Bashing befeuert). Vor allem IGM und IG BCE waren es auch, die das gewerkschaftsschädigende Tarifeinheitsgesetz gefordert hatten.
  5. Der Austausch unter kritischen Kolleg:innen und Betriebsgruppen muss in der Phase der Forderungsdiskussion und während des Verlaufs der Tarifrunde überörtlich breiter organisiert werden. Heute gibt es noch keine weithin anerkannte Struktur, die das zufriedenstellend bewerkstelligen kann. Einer der wenigen überparteilichen Ansätze ist die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG, vernetzung. org).

https://www.sozonline.de/2024/04/wende-zu-einer-neuen-streikkultur/

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